Bundesverfassungsgericht hebt meinungsfeindliches Strafurteil auf

"Verkommenes BRD-System" muss keine "Verunglimpfung des Staates" sein

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Das Strafgesetzbuch weist nicht nur dem Bundespräsidenten, sondern auch dem Staat einen besonderen Ehrenschutz zu: Wer die Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder oder ihre verfassungsmäßige Ordnung beschimpft oder böswillig verächtlich macht oder die Farben, die Flagge, das Wappen oder die Hymne der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder verunglimpft, riskiert theoretisch bis zu drei Jahren Haft.

Der auf einer Vorschrift aus dem Kaiserreich fußende Straftatbestand des § 90a StGB führt allerdings ein Schattendasein, da die Rechtsprechung der in Art. 5 GG als Grundrecht geschützten Kunst- und Meinungsfreiheit große Freiräume zubilligt und die Steuerung politischer Meinungen über das Strafrecht nicht mehr als zeitgemäß gilt. Selbst das Eintauchen einer deutschen Flagge in Pferdemist kann als Kunst gewertet werden. Die Rechtsprechung wendete die Vorschrift in den letzten Jahrzehnten praktisch nur bei Äußerungen über die Bundesrepublik mit Bezügen zum Dritten Reich oder dem Vorwurf von Staatsmorden an.

Dennoch verurteilte das Amtsgericht Hechingen ein Vorstandsmitglied eines NPD-Kreisverbandes wegen Beihilfe zur Verunglimpfung des Staates, weil es sich in einem Flugblatt über eine Theatervorstellung "Georg Elser - allein gegen Hitler" wie folgt erbost hatte:

"Wie sehr ist dieses BRD-System schon verkommen, daß es für seinen 'K(r)ampf gegen Rechts' (und damit alles Deutsche!) eines solchen Vorbildes bedarf? Ihn in Filmen und Theaterstücken bejubelt, Schüler zwingt, ihn zu verehren ... ? Werden bald die kommunistischen RAF-Terroristen ebenso geehrt und ihre Opfer verhöhnt? Mörder unschuldiger Menschen können keine Vorbilder sein! (...)"

Der Äußernde erinnerte insbesondere an die acht Todesopfer des verhinderten Hitler-Attentäters, die durch das Stück verhöhnt würden. Die Verurteilung wurde vom Oberlandesgericht Stuttgart bestätigt.

Wie heute bekannt wurde, hob das Bundesverfassungsgericht das Urteil jedoch auf, da dem Grundrecht der Meinungsfreiheit nicht hinreichend Rechnung getragen worden sei. Es erinnerte an seine ständige Rechtsprechung, der zufolge vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit durch das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägte Äußerungen umfasst seien, ohne dass es dabei darauf ankäme, ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, oder ob sie als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden. Sie verlören diesen Schutz auch dann nicht, wenn sie scharf und überzogen geäußert werden. Der Meinungsäußernde sei insbesondere auch nicht gehalten, die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen zu teilen, da das Grundgesetz zwar auf die Werteloyalität baue, diese aber nicht erzwinge. Neben Meinungen seien vom Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG aber auch Tatsachenmitteilungen umfasst, soweit sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen sind beziehungsweise sein können.

Die vorliegende wertungsgeprägte Kritik richte sich gegen Verehrung der Person Georg Elsers in der Bundesrepublik Deutschland. Dass dabei das "BRD-System" als "verkommen" bezeichnet werde, sei für die Eröffnung des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit nicht entscheidend, da es hierfür auf den Wert der Äußerungen und eine Werteloyalität der Beschwerdeführerin nicht ankomme. Anders als dem einzelnen Staatsbürger komme dem Staat kein grundrechtlich geschützter Ehrenschutz zu. Der Staat habe grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten.

Die Zulässigkeit von Kritik am System sei Teil des Grundrechtestaats. Zielrichtung des vorliegend angewandten § 90a StGB wie sämtlicher Staatsschutznormen sei es, den Bestand der Bundesrepublik Deutschland, ihrer Länder und ihrer verfassungsgemäßen Ordnung zu gewährleisten und zu erhalten. Die Schwelle zur Rechtsgutverletzung sei im Falle des § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB mithin erst dann überschritten, wenn aufgrund der konkreten Art und Weise der Meinungsäußerung der Staat dermaßen verunglimpft werde, dass dies zumindest mittelbar geeignet erscheine, den Bestand der Bundesrepublik Deutschland, die Funktionsfähigkeit seiner staatlichen Einrichtungen oder die Friedlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden.

Kernaussage des fraglichen Flugblattes sei bei einer kontextbezogenen objektivierenden Betrachtung der Absatz: "Mörder unschuldiger Menschen können keine Vorbilder sein!" Die Darstellung einer Verkommenheit des "BRD-Systems" sei hingegen weder inhaltlich noch dem Umfang nach thematischer Schwerpunkt des Flugblattes. Eine auch nur mittelbare Eignung des Flugblattes, den Bestand des Staates und seiner Einrichtungen oder die Friedlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, erscheine ausgeschlossen.

Die Entscheidung wiederholt im Wesentlichen längst zementierte verfassungsrechtliche Grundsätze zur Meinungsfreiheit. Erstaunlich ist, dass diese von den Strafgerichten in den Wind geschlagen wurden und auch das Justizministerium Baden-Württemberg die offensichtlich verfassungswidrige Rechtsanwendung nicht im Rahmen der Verfassungsbeschwerde beanstandete.