Tunesien und die Angst vor dem militanten Islamismus

Demonstranten werfen der Regierung Täuschungsmanöver vor

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In Tunis wird weiter demonstriert. Was das französische Nachrichtenmagazin Nouvel Observateur bei den Demonstrationen in der Hauptstadt als "enormes Misstrauen gegenüber der Interiums-Regierung" ausmachte, übersetzt sich laut Tunisia Watch in weiter bestehenden Forderungen nach einem Rücktritt der Regierung: "Gouvernement de Ghannouchi Dégage".

Zumindest unter den 4.000 Demonstranten am Sonntag vor der Kasbah in Tunis sei dies gerufen worden - in einer "entspannten Atmosphäre", die in einiger Distanz von der Armee und von Polizisten, immerhin mit Hubschauber-und Panzerbegleitung beobachtet wurde. Männer, Frauen und Kinder hätten der Demonstration beigewohnt. Auch bei der gestrigen Demonstration am selben Platz beobachteten die Korrespondentin ein gemischtes Teilnehmervolk aus Zivilisten, Mitgliedern von Gewerkschaften, diversen Zivilorganisationen und Oppositionsparteien. Man warf der Regierung Ghannouchi den Schutz und die Beibehaltung alter RCD-Parteikader und Täuschungsmanöver im alten Stil vor.

Was mit Täuschungsmanövern der Regierung gemeint ist, präzisiert ein Artikel der aktuell auf dem Portal Nawaat.org erscheint: "Die Operationen unter falscher Flagge sind in Tunesien zurück". Verwiesen wird darin besonders auf den Mord an einem polnischen Priester, der vergangene Woche geschah. Öffentlich wurde das von Regierungsseite in ersten Reaktionen mit Islamisten in Tunesien und der Gefahr, die von ihnen drohe, in Zusammenhang gebracht (siehe "Es häufen sich die Anzeichen eines religiösen Fanatismus im Land"). Dazu kamen Nachrichten, die laut Taz die Nerven blanklegen - wie immer, "wenn es (in Tunesien) um den religiösen Fundamentalismus geht":

"Freitag vor einer Woche versammelten sich mehrere dutzend Anhänger einer kleinen salafistischen Gruppe vor der Synagoge der Hauptstadt und schrien antisemitische Parolen. In Sousse, Kairouan und Bizerte wurden Bars, die Alkohol verkaufen, sowie Bordelle angegriffen und teilweise verwüstet. In Tunis konnte die Armee am Freitag die Randalierer vor dem Bordell in der Altstadt abwehren."

Ein Verdächtiger im Falle des Mörders des polnischen Priesters wurde mittlerweile verhaftet; er arbeitete an derselben Privatschule, von islamistischen Motiven ist nicht mehr die Rede.

Für den Autor des Nawaat-Artikels steckt Methode hinter den Anschuldigungen, Islamisten verantwortlich zu machen. Das sei eine in der jungen Geschichte Tunesiens bewährte "tödliche Waffe", die sich das Herrschaftssystem Ben Alis öfter zunutze machte. Der Autor fürchtet weniger, dass tunesische Islamisten in diesem für Veränderungen offenen Moment in die "untersten Schubladen" greifen würden, um den Tunesiern "ihr Gesellschaftsprojekt" vorzustellen, als vielmehr, dass sich Strategen des alten Regimes der alten Angst bedienen, um sie peu à peu über Medien wieder aufleben zu lassen und zu verbreiten. Auch bei der gestrigen Demonstration wurde kritisiert, dass die Regierung auf Panikmache mithilfe der islamistischen Gefahr zurückgreife:

"Man will uns mit den Islamisten Angst machen. Ben Ali hat diese Waffen zu viele Jahre benutzt, wir glauben nicht mehr daran."

Das Misstrauen in die alten Kader bleibt, zumal die Interimsregierung bislang auch noch nicht bekannt gegeben hat, wann die Neuwahlen stattfinden werden. Doch dürfte die Regierung wissen, dass sie anders unter öffentlicher Beobachtung steht als früher. Als weiteren Schritt der Reform gab der Innenminister gestern bekannt, dass er vor Gericht eine Klage eingereicht hätte, welche die Auflösung der RCD (Rassemblement constitutionnel démocratique) verfolgt.