Wozu brauchen wir Geisteswissenschaften?

Hans Ulrich Gumbrecht fordert mehr Teamgeist von unseren Meister- und Geisteserzählern. Nur so könne "nicht weniger als die Überlebensfrage für die Menschheit" gelöst werden

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der Streit darüber, wozu Geisteswissenschaften nütze sind, ob sie "vernachlässigt", "veraltet" oder "verkannt" werden, ob sie "notwendig", "unvermeidlich" oder doch eher "überflüssig" sind ( Unentbehrlich, unvermeidlich, überflüssig), ist so alt, wie sie selbst.

Daran hat sich auch nichts geändert, als man sie post 68 zunächst in "Gesellschaftswissenschaften", dann in "Humanwissenschaften" und schließlich (dem Angelsächsischen zuliebe) in "Kulturwissenschaften" umgetauft hat. Und daran hat auch das Jahr 2007 wenig geändert, das Annette Schavan einst zum "Jahr der Geisteswissenschaften" erklärt hat.

"Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum" (Goethes Mephisto)

Eigenständig Geistiges

Zwar versuchte Wilhelm Dilthey gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Wissenschaft vom "Erleben geistiger Erscheinungen" in scharfer Abgrenzung von den Naturwissenschaften (erklärende Verfahren) eine wissenschaftstheoretische Basis und Legitimation zu geben (vgl. /12148/bpt6k694354/f6.image: Einleitung in die Geisteswissenschaften). Fortan sollten diese Wissenschaften, die sich irgendwie alle mit den "inneren Vorgängen", den "Lebensvollzügen" und/oder den "historischen Erfahrungen" des Menschen beschäftigen, den "Eigengesetzlichkeiten" des menschlichen Geistes und seiner Seele mit (hin)einfühlenden Verstehensleistungen (hermeneutische Verfahren) auf die Spur kommen - auch, um dadurch die vermeintliche Eigenständigkeit und Freiheit der menschlichen Vernunft, die Kant den Menschen hundert Jahre zuvor attestiert hatte, wiederherzustellen.

Doch schon knapp fünfundsiebzig Jahre später wurde diese Unterscheidung bereits wieder in Zweifel gezogen. Es war bekanntlich Jürgen Habermas, der 1968 in "Erkenntnis und Interesse" und im Lichte neomarxistischen Lehrwissens die Kluft und die Unvereinbarkeit der Wissenschaftskulturen (P. Snow) mittels der "Sozialwissenschaften" überwinden wollte. Sie sollten nicht nur von einer höheren Beobachterposition aus (Verfahren der Selbstreflexion) die Denk- und Handlungsweisen der zwei Wissenschaftskulturen kritisch begleiten, sondern auch deren Praktiken auf ihre soziale Verträglichkeit hin überprüfen und, wenn möglich, Prognosen für die Bewältigung künftiger Gegenwarten erstellen.

Unerwartetes ist die Regel

Daraus ist, wie wir in der Rückschau wissen, nichts oder zumindest nicht viel geworden. Trotz ihrer kurzzeitigen Hoch- und Blütezeit haben es die Sozialwissenschaften nicht verstanden, sich als kritische Beobachter der Evolution von Mensch und Natur zu etablieren. Und sie haben es auch nicht geschafft, uns gesicherte Orientierungsmuster oder normativ verbindliche Richtlinien an die Hand zu geben, nach denen wir unser politisches, soziales oder ökonomisches Handeln ausrichten könnten, um möglichst vielen unter uns ein besseres Leben zu ermöglichen.

Im Gegenteil: Weder ist es ihren Verächtern gelungen, die "Soße der Geisteswissenschaften" auszutrocknen und ihnen den "Geist", wie Friedrich Kittler ein paar Jahre später im Banne poststrukturalistischer Verunsicherungskonzepte noch zu hoffen wagte, auszutreiben, noch hat man hierzulande oder in Übersee eine neue "Dritte Kultur" aus dem Boden stampfen können, die im Gleichklang mit den wissenschaftlichen Revolutionen, die Computer- und Biowissenschaften anrichten, marschiert und die Trennung der beiden unvereinbaren Wissenschaftskulturen zugunsten der Selbstreflexion wieder aufhebt.

Von all diesen missglückten Versuchen, den Geisteswissenschaften ein festes Fundament zu geben, ist uns am Beginn des neuen Jahrtausends zumindest eine gesicherte Erkenntnis geblieben: Die Gewissheit, dass nichts so gewiss ist wie die Ungewissheit. Das Unerwartete ist längst die Regel geworden, um es mal in der Sprache der "Black Swan"-Theorie des US-Ökonomen Nassim Nicholas Taleb zu formulieren. Und diese Erfahrung haben die "weichen" (Geistes)Wissenschaften, wenn man so will, an die "harten" Wissenschaften weitergereicht, an die Wirtschaft ebenso wie an die Physik, die gemeinhin als die strengste und mithin "härteste" Wissenschaft gilt.

Immer weiter

Umtriebige Geistesarbeiter hat diese Einsicht in die Ungewissheit allen Wissens aber nicht daran gehindert, munter weiter an Entwürfen und Konzepten für ein besseres Leben zu basteln. Mangel an Vorschlägen und Ideen, wie wir morgen leben oder auch möglicherweise zu leben haben werden, bestünde daher nicht, wie Hans Ulrich Gumbrecht, Literaturprofessor und Teilzeitblogger für die FAZ in der Silvesterausgabe der Zeitung Die Welt (vgl. Werdet konkret, Kollegen!) bescheinigt. Hierzulande schon mal gar nicht, wo die Geisteswissenschaften, wie Gumbrecht, der an einer privat finanzierten Einrichtung lehrt, ihnen genüsslich wieder mal vorhält, von der öffentlichen Hand großzügig unterstützt und alimentiert zu werden.

Darum fehle es auch nicht an kompetenten Geistesarbeitern, die mitunter auch zeigten, was sie drauf hätten. Unsere Bibliotheken, deren Bücherregale jeden Tag um Kilometerlängen wüchsen, legten geradezu Zeugnis ab von ihrer ungeheuren Produktivkraft. Doch leider agierten sie (man erkennt sofort den leidenschaftlichen Fan des Mannschaftssports, der Gumbrecht ist) bisher mit mehreren Spielgeräten auf unterschiedlichen Spielplätzen meist neben- oder gar gegeneinander, statt miteinander, im Team, mit dem gleichen Spielgerät um die besten aller möglichen Zukünfte zu ringen.

Wissen ohne Teamplay

Zwar sei der Punktestand der Geisteswissenschaften am Ende des Jahres nicht übel, eine Prognose, ob man in den folgenden "Spielzeiten" um den Abstieg, ums internationale Geschäft oder gar um die "Königsklasse" kämpfen werde, lasse sich daraus aber nicht ableiten. Der "Zukunft" bislang "keine Form" gegeben zu haben, müsse aber kein Beinbruch sein, sollte es ihren "Stars" tatsächlich und endlich gelingen, persönliche Eitelkeiten und gegenseitige Animositäten, Profilierungsgehabe und kleinteilige Nabelschau hintanzustellen und ihre Blicke auf all jene Probleme zu lenken, die "nicht weniger als die Überlebensfrage für die Menschheit" markierten. Laut Gumbrecht soll es dabei vor allem um die "Asymmetrie zweier Zukunftshorizonte" gehen, die es zunächst miteinander in Beziehung zu setzen und dann gemeinsam (in gut psychoanalytischer Manier) "in ihrer Konkretheit durchzuarbeiten" gelte: einmal "den Horizont der als gewiss prognostizierten Bedrohungen", worunter er den Klimawandel, die demografische Entwicklung und den zu erwartenden Rohstoffmangel subsumiert; sodann "den Horizont der durch elektronische Technologie eröffneten Möglichkeiten", wie etwa die Erreich- oder Verfügbarkeit von Wissen oder neue Formen der Soziabilität.

Kloster für Intellektuelle

Mal abgesehen von der Frage, was ein Literaturwissenschaftler uns denn gar Neues oder Aufregendes über den Klimawandel, die Demografie oder die Macht sozialer Netzwerke mitzuteilen habe, was nicht schon längst irgendwo gesagt, geschrieben oder gedruckt worden ist; und mal abgesehen davon, was Klimaforscher, Bevölkerungsstatistiker oder Netzwerker zu den Kommentaren dieses Geistesarbeiters sagen würden, erinnert Gumbrechts hochtouriges Wettern gegen den intellektuellen Stillstand an jene Klage, die neulich Thomas Assheuer in der Wochenzeitung Die Zeit (vgl. Kalte Liebe) hinsichtlich des Schweigens der Intellektuellen zu Europa und zur Verschuldungskrise erhoben hat.

Es scheint Gumbrecht ein neues "Manhattan-Projekt" zum Stoppen dieser "Stagnation" des Denkens vorzuschweben, eine Art Intellektuellenkloster für Geisteswissenschaftler, das entweder von privaten Unternehmen oder staatlichen Stellen gesponsert wird und die besten Köpfe des Planeten vereint. Diese sollen dann befreit von allen Lehrverpflichtungen wie die Päpste bei der Papstwahl in Klausur gehen, um dort, nachdem sie hinreichend lange nachgedacht und räsoniert haben, die Kraft zu profunden Urteilen zu entwickeln, wie wir das "Überleben" der Menschheit am besten bewerkstelligen können.

Entscheiden tun andere

Doch was aus den "Urteilen" folgen soll, ob man sie bloß in Buchdeckel sperren, ins Netz stellen und der Öffentlichkeit präsentieren will, oder ob sie die politisch Verantwortlichen auch beraten oder gar (an)leiten sollen, darüber schweigt sich Gumbrecht merkwürdigerweise aus. Von "Orientierungshilfen", "Handlungsanleitungen" oder gar "Lösungen" will er nichts mehr wissen. Auch nichts von einer "gesellschaftlichen Orientierungsfunktion", die den Geisteswissenschaften zukämen. Die nötigen Schlussfolgerungen und politischen Entscheidungen treffen sollen andere, Parlamente, Aufsichtsräte, Unternehmensführer. Die Verantwortung dafür möchte er nicht tragen und sich daran weder die Hände verbrennen noch die sprichwörtlichen Finger schmutzig machen.

Was Gumbrecht da implizit fordert, ist eine Art "Glasperlenspiel" (H. Hesse) für Meisterdenker, die auf diese Weise zu neuen Ehren und Meriten kommen sollen. Nachdem man den "universellen Intellektuellen", der für andere Partei ergreift oder in ihrem Namen spricht, Anfang der Achtzigerjahre für tot erklärt hat und an seine Stelle erst den "Experten" oder "Fachgelehrten" und dann gar den "Hacker" hat treten lassen, der die Programmcodes der Mächtigen knackt und deren Kommunikationsabläufe umkehrt (vgl. Der Hacker als Erbe des universellen Intellektuellen), möchte Gumbrecht diesen Großmeister des menschlichen Geistes wieder aufleben lassen, wenn er zwei Bedingungen erfüllt.

Gemeinsam ohne Matchplan

Dieser Großgeist muss zum Mannschaftsspiel fähig und bereit sein, er muss für andere rackern und auch nicht hinten arbeiten wollen; und er muss dem "Kleinteiligen" seines Spezialgebiets abschwören und sich stattdessen mit ganzer Kraft den "großen" Fragen des "Überlebens der Menschheit" widmen. Wieder scheint der Mannschaftssport Pate gestanden zu haben. Gumbrecht hat offenbar die begnadeten Ballkünstler im Blick, die bekanntlich erst dann zu wahrer Größe finden, wenn sie wie einst Maradona, Pele oder Beckenbauer im Team internationale Titel erringen und nicht unvollendet bleiben wie Michael Ballack oder Lionel Messi im Trikot der argentinischen Nationalmannschaft.

Wer dabei allerdings die Taktik und den Matchplan vorgibt, wer mithin den Mourinho oder den Gardiola geben soll, der all die Messis, Ronaldos, Xavis und Iniestas der "Geisteszunft" zum Team formt, ihnen Teamspirit einhaucht und sie so in Position bringt, damit ihre unterschiedlichen Qualitäten in der Mannschaft auch zum Tragen kommen, diese ebenso spannende wie entscheidende Frage lässt Gumbrecht offen und ungelöst. Offenbar scheint er zu glauben, dass die Spieler auch ohne Trainer so kompetent sind und sich ihr Spiel selbst organisiert.

Dies könnte allerdings ein Trugschluss sein. Auch Teams mit überragenden Spielern brauchen große Trainer, die Spiele analysieren, Schwächen aufdecken, Spieltaktik, Spielrhythmus und Spielstrategie bestimmen und zugleich aufzeigen können, wie kompakt agierende, dicht gestaffelte Abwehrreihen überwunden werden können. Zumal es für Zuschauer wie für Spieler auf Dauer unergiebig ist, den Ball bloß elegant vor dem gegnerischen Strafraum in den eigenen Reihen kreiseln zu lassen. Bleiben Tore, Ergebnisse und damit auch Erfolge aus, wird meist der Trainer entlassen und sind auch die Starspieler weg.

Sinnstifter und Orientierungsgehilfen

Neu sind Gumbrechts Vorstellungen bekanntlich nicht. Solche Zusammenschlüsse gibt es, seitdem die Wissenschaft den globalen Aufstieg Europas und des Westens entscheidend mitgestaltet und ermöglicht hat. Die Royal Society in England, der einst Isaac Newton vorstand, wäre da so ein Beispiel. Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, die einst Friedrich II. aus der Taufe hob, ein anderes. Und auch der Literaturagent John Brockman stellt jedes Jahr den seiner Meinung nach klügsten Köpfen der Welt eine Hausaufgabe, die sie dann in einer strikt limitierten Zahl von Zeichen online zu präsentieren haben.

Und neu ist es auch nicht, Intellektuelle oder ganze Intellektuellentrupps zu "Richtern", "Sinnstiftern" oder "Orientierungsgehilfen" zu erklären. Da muss man nicht erst auf Nietzsche zu verweisen, der sich über solch anmaßende Ärzte, Richter, Psychologen stets lustig gemacht hat. Es reicht auch, an die Münsteraner "Ritter-Schule" zu erinnern, aus deren Kreis heraus später Odo Marquardt das hohe Lied auf den Geisteswissenschaftler als "Kompensationskünstler" gesungen hat, dessen vornehmste Aufgabe es sei, die "Modernitätsschäden", die Wissenschaft und Technik verursachten, für die Menschen aushaltbar zu machen.

Blödsinn kompetent erzählt

Eine Ahnung, wie solche Klausuren mit Geisteswissenschaftlern ablaufen könnten, lieferte im Sommer jene "Ethikkommission", die für die Bundesregierung Atomausstieg und Energiewende nicht bloß argumentativ begründen, sondern auch noch als alternativlos legitimieren sollte. An ihr waren vor allem Theologen, Ethiker, Soziologen und Moralisten beteiligt, die vor allem eines gemeinsam hatten, nämlich von Atomreaktoren und den physikalischen Vorgängen in ihnen wenig oder gar keine Ahnung zu haben.

Auch deswegen überrascht der Optimismus, mit dem Gumbrecht die gebündelte Kraft des menschlichen Geistes einschätzt. Zumal er vollkommen vergessen zu haben scheint, wie abhängig die Geisteswissenschaften von "Stimmungen" (vgl. Zur Stimmung der Geisteswissenschaften) eigentlich sind, und wie viel Blödsinn von prominenten Intellektuellen schon bezüglich gesellschaftlicher Ereignisse dahergeredet worden ist.

Man denke nur an Jean-Paul Sartre mit seinen Äußerungen zu den Schauprozessen in Moskau und zur Baader-Meinhof-Gang, oder auch an Michel Foucaults Erklärungen zu Khomeni und dem Iran; man denke an Jacques Derrida und seinen Einlassungen zu Europa oder an Peter Sloterdijks Vorstellungen zur Steuergesetzgebung; und man denke schließlich auch an Jürgen Habermas und all das, was er zur Wiedervereinigung und zum DM-Nationalismus verlautbart hat.

Voll daneben

Gumbrechts Vertrauen auf angebliche "Gewissheiten" (was aus einem Mund, der stets vor (Selbst-)Gewissheiten warnt und andere zur Beobachtung zweiter Ordnung ermuntert, schon äußerst seltsam klingt) sowie auf die Urteilskraft von Analysten in allen Ehren: Aber sind die Klimaforscher, Demografen und Geopolitiker nicht selbst ziemlich uneins, was die Ursachen, die Folgen und die Entwicklung der globale Erwärmung, der Demografie und der Rohstoffmärkte angeht?

Und war nicht erst neulich in der Wirtschaftswoche (vgl. Vom Wahrheitsgehalt der DAX-Prognosen), im Handelsblatt (vgl. Weit daneben ist auch vorbei) oder in der Welt (vgl. Wer auf Analysten vertraute, der war arm dran) zu lesen, dass von den etwa dreißig Prognosen, die von Analysten und hoch bezahlten Strategen für das Jahr 2011 gemacht worden sind, keine einzige wirklich eingetroffen ist? Sagten nicht alle Befragten damals Rekordstände und satte Gewinne für Anleger voraus? Statt in bislang unbekannte Höhen zu klettern, verbuchte der Dax Verluste von annähernd 16 Prozent.

Reines Palaver

Ein ziemlich abschreckendes Beispiel in Sachen Teamplay und Intellektuellengewäsch bot erst neulich das Dreigestirn Zizek-Dath-Cohn-Bendit in der FAZ. Ohne genauen Arbeitsplan palaverten die drei auf Vorschlag der Zeitung einfach mal so frei assoziierend über die "politischen und kulturellen Herausforderungen der Zukunft" (vgl. Wir Europäer haben die Ressource der Aufklärung).

Das Schlimme daran ist nicht die "freie Assoziation" ganz im Sinne Sigmund Freuds, sondern dass die Zeitung diesen Intellektuellenschnack auch noch für bedeutend befunden und großflächig abgedruckt hat. Anfang der Achtzigerjahre hätte die "Vernunftkritik" solche Gedankenergüsse als "palavernde Aufklärung" bezeichnet, ein Begriff, den einst Gerd Bergfleth prägte, für den das allerdings unmittelbare gesellschaftliche Folgen zeitigte. Danach wurde er als Rechts-Romantiker geoutet, verfemt und intellektuell kalt gestellt.