Lob des Fremdgehens

Ins Herz des neuen Kulturkampfs: Joe Wrights "Anna Karenina"-Verfilmung macht aus dem universalen Drama einen stinknormalen Ehebruch

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Die Episode um den unglückseligen US-General Petraeus hat es wieder einmal gezeigt: Wir leben in puritanischen Zeiten. Über die neue Prüderie in unserem öffentlichen Leben kann man sich nur wundern. Ein General darf nicht fremdgehen. Außerehelicher Sex ist in Politik und Krieg eine tödliche Sünde. Und auch in der Wirtschaft: Seit 2005 mussten allein in den USA die CEOs von mehr als einem halben Dutzend Top-Konzerne wegen außerehelicher Affairen zurücktreten, darunter von Hewlett-Packard, Boeing und Lockheed. Man muss Schlimmes fürchten fürs Abendland - kulturhistorisch waren die Zeiten der Askese immer Zeiten des Niedergangs. Dass man die Fragen des Ehebruchs auch ganz anders betrachten kann, beweist jetzt der Brite Joe Wright in seiner Verfilmung von Leo Tolstois Jahrhundertroman "Anna Karenina".

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Schwarz ist ihr Ballkleid, weiß seine Uniform. Sie tanzen und es wirbelt, es wirbelt außen, aber es verwirbelt auch ihre Gemüter. "Im Hause Oblonskij war alles durcheinander", heißt der berühmte zweite Satz der "Anna Karenina". Der erste, noch berühmtere lautet: "Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich."

Wenig später wird dann die Titelheldin zu ihrem frischgebackenen Liebhaber sagen: "Alles ist zu Ende. Ich habe nun nichts außer dir." Leo Tolstois Ehebruch- und Familienvergleichs-Roman ist die Geschichte einer Amour Fou. Das Schwarz-Weiß und Entweder-Oder der Leidenschaften wird platziert vor das Grau in Grau einer überlebten, dem Untergang geweihten Gesellschaft. Passion vor Müdigkeit - das könnte zeitgemäß und aktuell sein - und es charakterisiert auch den Film selbst ganz gut, einen Film, der laut und schnell anfängt, und sich dann in Tempo und Effekten allmählich steigert.

Tolstois Jahrhundertroman "Anna Karenina" ist einer der meistverfilmten Romane der Weltliteratur. Über 20 Mal ist die Geschichte der drei Familien aus der russischen Oberschicht schon für die Leinwand inszeniert worden, zuletzt 1997 mit Sophie Marceau in der Titelrolle. Vor ihr spielten unter anderem Greta Garbo - sie sogar zweimal - und Vivien Leigh die unglückliche Ehegattin. Und jede Anna Karenina ist anders - ein Kind ihrer Zeit, aber auch ein Geschöpf der jeweiligen Schauspielerin. Jetzt also Keira Knightley.

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Schon zweimal hat Regisseur Joe Wright bereits einen großen Roman mit der Knightley verfilmt, "Stolz und Vorurteil" von Jane Austen und Ian McEwans "Atonement", und zweimal hat das sehr gut funktioniert. Zwei Kostümfilme, einmal die napoleonische Ära bei Austen und einmal die 30er Jahre, zweimal eine Schauspielerin, die so gar nicht in Kostüme und Kulissen vergangener Zeiten zu passen scheint, weil sie explizit modern wirkt, ein Girl, das es mit der Zeitmaschine verschlagen hat - aber gerade dieser Kontrast ist wunderbar aufgegangen.

Doch diesmal stimmt das Sprichwort nicht, das aller guten Dinge drei sind, denn gerade die Hauptdarstellerin ist hier das Problem und zumindest was die Titelheldin angeht, will die neue "Anna Karenina" nicht zünden. Die heimlichen Hauptfiguren dieser Verfilmung sind viel eher ihr Liebhaber, der feurige Graf Vronski (Aaron Taylor-Johnson), der einmal nicht zum lächerlichen Tunichtgut heruntergestutzt wird, dann ihr älterer Gatte, der besonnen-harte Politiker Karenin (Jude Law), bei dem sich Vernunft und Gefühl die Waage halten, und der deswegen zur persönlichen Kränkung ein Verhältnis findet, seiner Frau eine zweite, eine dritte und noch eine vierte Chance einräumt - bis es irgendwann einfach mal genug ist. Sowie die junge Kitty (Alicia Vikander) die erst naiv-schwärmerisch in den ewigen Junggesellen verliebt ist, dann aber die tieferen Werte in dem Gutsbesitzer Levin (Domhnall Gleeson) erkennt, und mit ihm eine Ehe eingeht, die das glückliche Gegenstück, den Kontrast zu Annas zunehmender Misere darstellt.

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Das alles kommt zumindest dem multiperspektivischen Charakter des Buches sehr nahe. Denn wie "Krieg und Frieden" ist auch dies eher der Roman einer Gesellschaft und das Portrait mehrerer Familien in ihrem Glück wie Unglück als das Portrait nur einer Person. Tolstoi wechselt immer wieder den Focus und beschreibt auch kleinste Nebenfiguren voller Details als in sich widersprüchliche Individuen.

Also bitte, wo bleibt die Contenance?...

Wrights "Anna Karenina" ist zunächst aber vor allem ein opulenter Kostümschinken, der geballte Pracht und Schauwerte bietet. Alles ist Bühne hier, großer Auftritt, soziale Rolle vor Kulissen - so verdoppelt der Film den Blick, den die Gesellschaft des Zarenreichs auf die Ehebrecherin Anna Karenina wirft. Der Bruch mit ihr sozialen Rolle, mit den Verhaltenslehren der Kälte, war sowieso die Kardinalsünde der Karenina. Ehebruch? Nichts dagegen zu sagen, aber bitte doch diskret.

Mit einem feschen Junggesellen aus besserer Gesellschaft? Wenn's denn sein muss, und grade kein Husar zur Verfügung steht. Immerhin besser als der Stallbursche. Und ein Kind vom Galan? Macht man weg. Aber so vor aller Augen? Wie schamlos! Hat sie denn gar kein Benehmen? Und Liebe? Also bitte, wo bleibt die Contenance...

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Man hat diese Figur, eine Zeit- und Leidensgenossin von Flauberts "Madame Bovary" und Fontanes "Effi Briest", immer als Frau im Kampf um Anerkennung verstanden, eine Frau, die den Mut hat, Konventionen und "Tugenden" zu opfern um ihrer Selbstverwirklichung willen. Anna Karenina ist schließlich auch eine Mutter, die für den neuen Lover ihr Kind im Stich lässt - eine Tat, die in ihrer schamlosen Egozentrik heute eher noch unerhörter wirkte als im 19.Jahrhundert, wo Mütter aus der "besseren Gesellschaft" es allemal nicht so hatten mit der Mutterrolle. Wofür gibt es schließlich Personal?

Man hat in diesem Emanzipationsstreben aber auch immer mehr gesehen: Das universale Drama eines Menschen, der sich nach Freiheit und Glück sehnt, und der es wagt, dafür das Gesellschaftskorsett zu sprengen. All solche Facetten und Widersprüche fehlen ganz überwiegend in in Joe Wrights rasanter, ungewöhnlicher, aber nicht restlos überzeugender Neuverfilmung, die - ganz im Unterschied zur Dickens-Neuverfilmung "Große Erwartungen", die nächste Woche in die Kinos kommt - nie abgründig, sondern recht brav und bieder und schlicht und wenig aktuell erscheint.

Die romantische Liebe als Illusion

Knightleys Karenina selbst wirkt in diesem Tableau wie ein großes unerzogenes Mädchen, unreif, gar nicht die lebenserfahrene Frau, die weiß, worauf sie sich einlässt, wie sie Sophie Marceau spielte, auch Greta Garbos gescheiterte und verrannte auch nicht die aus Verzweiflung hysterische der Vivien Leigh, die sich an Vronski klammert wie eine Ertrinkende an ein Stück Treibholz. Wenn aber Anna Karenina nicht mehr ist als ein etwas zu oberflächliches, kindisches Girl, wenn sie den Zuschauer weder zur Identifikation einlädt noch verführt, sie zu begehren und zu lieben - was bleibt dann von diesem Stoff?

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Tolstois Moral-Message, dass die romantische Liebe eine Illusion ist, kann in Zeiten nicht mehr erschüttern, in denen jede zweite Ehe geschieden wird. Und die Freiheitssehnsucht, den Glücksanspruch "against all odds", gegen alle Widerstände, die spürt man diesmal viel authentischer in der jungen Kitty und in dem alten Karenin, der viel mehr hinnimmt, als er müsste.