Neue Agenda für die NATO

Sechzig Jahre nach ihrer Gründung befindet sich die transatlantische Allianz auf dem Selbstfindungstrip. Zbigniew Brzezinski weiß, wie ihr dabei geholfen werden kann.

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Anfang April feierte die North Atlantic Treaty Organization, kurz NATO genannt, ihr sechzigjähriges Bestehen. Auf dem zweitägigen Treffen, das von Frankreich und Deutschland ausgerichtet wurde, kamen die Staat- und Regierungschefs zusammen, um dieses Jubiläum gebührend zu begehen. Neben der Begrüßung der Neumitglieder Albanien und Kroation im Bündnis war man vor allem über die Rückkehr Frankreichs in die Kommandostruktur hoch erfreut. Zur Erinnerung: Das Land hatte 1966 das Bündnis verlassen und war nur noch auf der politischen Ebene Mitgliedsstaat geblieben.

Inhaltlich ging es bei dem Treffen in der Hauptsache aber auch um die strategische Neuausrichtung des Nordatlantikpakts. Seitdem ihr der Gegner im Osten abrupt abhanden gekommen ist, befindet sich die transatlantische Allianz auf dem Selbstfindungstrip. War die erste, größere Phase von der Beendigung des „europäischen Bürgerkriegs“ und vom Ost-West Konflikt geprägt, von der Eindämmung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts, ging es nach dem Fall der Mauer und der Auflösung des kommunistischen Blocks vor allem um die Integration ehemaliger Gegner in Mittel- und Osteuropa ( A Plan for Europe: How to Expand NATO).

Mit dem Einsatz auf dem Balkan Mitte der Neunziger Jahre änderte sich aber schlagartig die militärische Doktrin. Die vormals eher passiv interpretierte Politik der Abschreckung wandelte sich in eine aktiv intervenierende, die sich auch jenseits des eigenen Bündnisterritoriums hinaus erstrecken kann. Richtig bewusst wurde das den meisten aber erst nach Nine-Eleven, als die NATO zum ersten Mal in ihrer Geschichte den Bündnisfall erklärte und auf die globale Bedrohung durch einen nicht-staatlichen Akteur militärisch reagierte.

Durch die Vielzahl neuer Bündnispartner, die veränderte Bedrohungslage sowie die Ausdehnung des Einsatzgebietes über das Bündnisgebiet hinaus hat sich das Selbstverständnis der NATO nicht bloß erheblich verändert, die Allianz ist durch die unterschiedlichen Interessenlagen und geopolitischen Zielen der Bündnispartner auch in eine tiefe Krise gestürzt. Vor allem durch das unilaterale Vorgehen der USA im Irak, aber auch durch den offenen Aufstand, den das „alte Europa“ gegen die USA und das „neue Europa“ probte, ist das Misstrauen unter den Mitgliedern gewachsen – diesseits wie jenseits des Atlantiks. Die Zweifel mehren sich in Brüssel, Washington und anderswo, ob bei künftigen Konflikten auch alle NATO-Partner mitziehen und ihre Beistandsverpflichtungen, wie im Artikel 5 des NATO-Vertrages grundgelegt, auch jederzeit erfüllen werden.

Bereits die Debatten um Hilfen für die Türkei anno 2003 haben gezeigt, dass jedes NATO-Mitglied möglicherweise gut daran tut, für eventuelle Konfliktfälle besser Selbstvorsorge zu treffen, als sich auf die schnellen, robusten und/oder uneingeschränkten Beistand der Verbündeten zu verlassen. Ob die Franzosen den Polen etwa zu Hilfe kämen, wenn diese in Gefechte an ihrer Ostgrenze verwickelt wären, steht ebenso in den Sternen, wie die Antwort auf die Frage, ob alle NATO-Staaten den Bündnisfall ausrufen würden, sollten die Taliban Pakistan erobern und mit dessen Nuklearpotential die NATO-Truppen in Afghanistan bedrohen. Nicht von ungefähr kommt es, dass Kommentatoren das Bündnis für „krank“, „tot“ oder „hohl“ halten, die Allianz geostrategisch für überholt und für ein Relikt des Kalten Krieges erklären und ehemalige Sicherheitsberater nach Mittel und Wegen suchen, das „Bündnis zu retten".

Vor neuen Herausforderungen

Zu diesen „Ehemaligen“ zählt auch Zbigniew Brzezinski. Der geostrategische Altmeister ist Mitglied im erweiterten Beraterkreis der Regierung Obama, der sich Gedanken zur Zukunft der NATO machen soll. In der aktuellen Ausgabe der "Foreign Affairs" hat er, nachdem davor eine Kurzfassung in der New York Times erschienen ist ( NATO and World Security) einen ausgearbeiteten Plan vorgelegt, wie die NATO ihren Fortbestand rechtfertigen, auf die geopolitischen Herausforderungen des Jahrhunderts reagieren und ihre Rolle in einem Netz globaler Sicherheit definieren könnte. Inzwischen sind einige der Vorschläge auch auf Resonanz gestoßen. So kündigte der neue NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen, dem es obliegt, „ein neues strategisches Konzept zu entwickeln“, bereits an, diese auch prüfen zu wollen.

Auch Brzezinski ist überzeugt, dass „der Aufstieg der Anderen“ (F. Zakaria) dazu geführt hat, dass sich das politische und wirtschaftliche Gewicht der Welt in den asiatisch-pazifischen Raum verlagert. Gleichzeitig habe sich, angetrieben durch Massenmedien, Möglichkeiten der Proliferation und anti-westliche Befreiungsbewegungen, die globale Sicherheitslage Zug um Zug verschlechtert. Wirkungsvolle Mechanismen, wie diese unstete Weltlage effektiv aufgefangen oder politisch kanalisiert werden könnte, bestünden kaum noch. Die UN, die manche diese Rolle zuweisen wollen, kann dies, wie man erfahren hat, nicht leisten. Sie scheint nicht die geeignete Institution, um ein System globaler Sicherheit zu garantieren.

Zusammenhalt stärken

Für die NATO bedeute dies, dass sie künftig mit vier fundamentalen Herausforderungen konfrontiert sein wird. Zuallererst müsse sich das Bündnis, so Brzezinski, endlich auf eine gemeinsame Strategie einigen, wie es ihr Engagement am Hindukusch erfolgreich gestalten will. Dazu bedürfe es neben einer fairen Arbeits- und Lastenverteilung auch eines klugen Ausgleichs zwischen militärischen und wirtschaftlichen Hilfen. Die Verantwortung des Einsatzes könnten jedenfalls nicht allein die USA tragen ( Die NATO-Partner sollten sich kooperativer verhalten). Die NATO-Partner müssten sich bewusst sein, dass ein Rückzug die Glaubwürdigkeit der NATO untergraben ( Ein Krieg, der notwendig ist, aber keiner sein soll) würde und den Extremisten in Afghanistan und Pakistan die Kontrolle über 200 Millionen Menschen ermöglichen werde.

Darüber hinaus müsse neu definiert werden, welche Bedeutung der Begriff „kollektive Sicherheit“ für die Partner noch besitze und welche Verpflichtungen sie künftig dafür einzugehen bereit seien. Es könne nicht angehen, dass jedes Mitglied wie bislang nach Gutdünken festlege, ob oder welchen Beitrag es im Konfliktfall zur Lösung des Problems beizusteuern gedenke. Auch könne es nicht angehen, dass ein oder zwei Staaten ein Vetorecht gegenüber Mehrheitsentscheidungen haben. Es müsse aber auch die Möglichkeit bestehen, Mitglieder, die ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, aus dem Bündnis auszuschließen.

Kooperation mit anderen

Schließlich müsse das Bündnis prüfen, wie es ihre Beziehungen zu anderen vergleichbaren Organisationen langfristig gestalten will. Beispielsweise zu Russland und der von ihr dominierten Russischen Föderation. Russland sei zwar kein Feind mehr, allerdings betrachte es die NATO mit feindlichem Blick. Um es enger an die nordatlantische Gemeinschaft zu binden und es von neuen imperialen Ambitionen des Landes abzubringen, sei es daher wichtig, formelle Verträge mit der Collective Security Treaty Organization (CSTO) zu schließen, der neben Moskau, Armenien und Belarus auch die zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisien angehören. Ziel unter anderem sollte sein, Nichtmitglieder, Brzezinski hat da vor allem die Ukraine und Georgien im Auge, die Möglichkeit zu geben, sowohl in der NATO als auch in der CSTO Mitglied sein zu können.

Die Verbesserung der Beziehungen zu Russland könnte sich dann auch positiv auf die Lösung von Sicherheitsfragen mit der Shanghai Cooperation Organization (SCO) auswirken, in der Russland ebenfalls Mitglied ist. Nur wenn es gelänge, auch die aufstrebenden Mächte, China, aber auch Indien und Japan, in ein solches Netz einzubinden, könnte es so etwas wie globale Sicherheit für alle geben. Wegen ihrer Nähe zu und ihres Sonderinteresses in Zentralasien könnte die Türkei dabei eine Schlüsselrolle zufallen. Sie könnte eine Art Vorreiter sein, um Möglichkeiten solcher Vereinbarungen auszuloten.

Regionale Allianz

Selbstverständlich geht es Brzezinski in dieser „Agenda“ auch darum, dass die USA ihre „hegemoniale Rolle“ weiter behalten und ausüben können. Die NATO, aber auch die EU, die den kleineren Staaten der CSTO engere wirtschaftliche Bindungen anbieten soll, sind dafür eher Mittel zum Zweck. In seinen Augen ist die Allianz aller anderen Auguren zum Trotz immer noch das „weltweit bedeutendste Militärbündnis“, dessen 28 Mitglieder immerhin ein Siebtel der Weltbevölkerung umfassen, aber fast die Hälfte des globalen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften.

Jedoch ist er zu auch sehr politischer Realist, Administrator der Macht und in kulturellen Dingen bewandert, als dass er einem amerikanischen „Go It Alone“ und einer globalen Ideologie, die von Demokratie, Freiheit und universalen Werten getragenen wird, geostrategisch etwas abgewinnen könnte. Er ist überzeugt, dass globale Sicherheit nur mittels eines klug ausbalancierten Netzes erreicht werden kann, das von verschiedenen Organisationen getragen wird, die wiederum ihre Mitglieder streng unter Kuratel halten.

Von dem Plan, das Bündnis in eine „globale Allianz“ umzuwandeln, hält er nichts. Und von der Idee, aus dem Nordatlantikpakt einen exklusiven Club demokratischer Staaten zu machen, ebenso wenig ( The Case for a League of Democracies). Niemals würden sich die aufstrebenden Mächte in Asien, Mittel- und Südamerika ( The Rise of the Rest der NATO anschließen. Globale Sicherheit werde auf diese Weise nicht zu erreichen sein. Und die NATO mit ideologischen Gehalten zu überfrachten, führe, abseits der Frage, wer als demokratisch zu gelten habe und folglich drinnen oder draußen sein dürfe, nur zu Konfusionen zwischen politischen und strategischen, ideologischen und militärischen Zielen. Darum müsse die NATO auch künftig ein „regional“ begrenztes Bündnis bleiben, eins mit „wachsendem globalen Potential“ allerdings.