Bundesverfassungsgericht kippt Sicherungsverwahrung

Alle Regelungen dazu müssen bis zum Mai 2013 neu gefasst werden

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Presse und Politik geben sich nach der heutigen Verkündung des Bundesverfassungsgerichts überrascht – doch für viele Juristen, die sich intensiv mit den vorangegangenen Urteilen des Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EMGR) zur Sicherungsverwahrung befasst hatten, war durchaus absehbar, dass dem Bundesverfassungsgericht die bisherigen Änderungen an der Rechtslage nicht weit genug gehen könnten.

Die heutige Entscheidung bedeutet kein deutsches "Mariel", bei dem auf einen Schlag dutzende von gemeingefährlichen Triebtätern auf die Bevölkerung losgelassen werden, verpflichtet die Behörden aber dazu, bis Ende des Jahres zu prüfen, ob von den sicherungsverwahrten Altfällen eine "hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten" ausgeht und sie zusätzlich an einer "zuverlässig nachgewiesenen psychischen Störung" leiden. Ist nur eine der beiden Voraussetzungen gegeben, haben sie Aussicht auf Entlassung.

Für eine mit höherrangigem Recht vereinbare Sicherungsverwahrung muss die Bundesregierung bis spätestens Mai 2013 nicht nur zahlreiche Paragrafen neu fassen, sondern auch spezielle "Hafthäuser" für Sicherungsverwahrte bauen oder einrichten lassen, die sich deutlich von Gefängnissen unterscheiden und sowohl soziale Kontakte mit der Außenwelt erlauben als auch "den allgemeinen Lebensverhältnissen angepasst" sein müssen. Dieses "Abstandsgebot" war bereits ein Kernpunkt der EMGR-Entscheidungen und darf – so die Karlsruher Richter heute – nicht den Bundesländern zur Ausgestaltung überlassen werden.

Weiterhin muss einer mit dem Grundgesetz und der Europäischen Menschenrechtskonvention zu vereinbarenden Sicherungsverwahrung ein "freiheitsorientiertes und therapiegerichtetes Gesamtkonzept zugrunde liegen, das unter anderem eine therapeutische Betreuung beinhaltet. Diese Betreuung muss so umfassend sein, dass sie den Verwahrten "eine realistische Entlassungsperspektive" erlaubt.

Doch auch über das Abstandsgebot hinaus gibt es Änderungsbedarf: So strich die neue Fassung des § 66 StGB zwar aus nicht ganz ersichtlichen Gründen die Brandstiftung aus dem Deliktskatalog, beließ aber zahlreiche gewaltfreie Straftaten darin, was dazu führte, dass das Landgericht Essen das Instrument im Januar gegen einen 62-jährigen nicht gewalttätigen Marihuanahändler verhängen konnte, während sich Intensivgewalttäter teilweise Körperverletzungssammlungen im hohen zweistelligen Bereich zulegten, ohne dass entsprechend eingeschritten worden wäre.