Die Wandelbarkeit des Rechts

Auch die Rechtsordnung ist von der Mentalität und Kultur, die Generationen haben oder teilen, abhängig. Das zeigt ein Blick auf die Evolution des Rechtsdenkens in Deutschland seit 1945

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Vor rund zwanzig Jahren erschien der erste Band von Hans-Ulrich Wehlers "Deutscher Gesellschaftsgeschichte". Vor drei Jahren beendete er dieses epochale Werk, das dreihundert Jahre deutsche Geschichte umspannt und eine Generation von Historikern prägen wird. Der fünfte und letzte Band, der die Geschichte der beiden deutschen Staaten erzählt, reicht von der Währungsreform 1949 bis zu ihrer Wiedervereinigung.

In all den Jahren ist der Bielefelder Historiker seinem sozialgeschichtlich orientierten Erzählkonzept treu geblieben. Im Zentrum stehen nicht nur Politik, Wirtschaft und Kultur. Immer wieder umkreist Wehler auch die Frage, wie politische Herrschaft ausgeübt wird und dadurch soziale Ungleichheiten entstehen.

Geschichte mit Lücken

Seltsamerweise endet seine Geschichte der Deutschen mit dem Jahr 1990. Die Ankunft Deutschlands in einer global vernetzten Welt, seine Rückkehr auf die Weltbühne der politischen Muskel- und Ränkespiele, sein Aufstieg zur Großmacht Europas bleiben ebenso unbelichtet wie der Anteil und die Rolle, die das Recht an diesem Evolutionsprozess nach dem Krieg möglicherweise einnehmen oder gespielt haben.

Diese beiden Lücken, die wir in Wehlers Mammutprojekt finden, versuchte der hoch geschätzte und in Fachkreisen bestens bekannte Verfassungsjurist und Rechtsphilosoph Hasso Hofmann in einem knapp siebzigminütigen Parforceritt durch die Rechtsentwicklung der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 zu schließen, den er Ende Oktober in der Carl-Friedrich von Siemens Stiftung in München einem überaus fachkundigen Publikum präsentierte.

Überraschend war, dass Hofmann seine rechtsgeschichtlichen Betrachtungen in den Rahmen einer allgemeinen politischen, sozialen und geistig-kulturellen Entwicklung des Landes stellte. Dabei machte er vier Perioden ausfindig, in denen sich die Vorstellung von Recht und Gerechtigkeit, ungeachtet aller Überschneidungen, grundlegend geändert hat:

die Naturrechtsphase nach dem Krieg,

die Versprachlichung des Rechts post 1968,

die Rückkehr der Gerechtigkeitsidee in den Achtzigern,

die Universalisierungsdebatten seit 1990.

Rechtsbewusstsein installieren

Das drängendste Problem, das laut Hofmann in den Jahren der konservativen Konsolidierung des Landes post WK II zu lösen war, sei die Revitalisierung eines allgemeinen Rechtsbewusstseins gewesen. Der Rechtspositivismus, der allein an der ordnungsgemäßen Setzung und sozialen Durchsetzung des Rechts interessiert ist und dem Motto: "Gesetz ist Gesetz" folgt, sei dafür ein äußert schlechter Ratgeber gewesen. Nicht nur, weil er während der Nazi-Diktatur keine Firewall gegen politische Übergriffe bot und folglich diskreditiert war, sondern auch, weil er keine hinreichende Unterscheidung lieferte, wo Recht aufhört und Unrecht beginnt.

Daher sei die damalige Juristen-Generation, auch durch die Soziallehre des Katholizismus motiviert, erneut auf Naturrechtslehren verfallen. Sowohl die aristotelisch-thomistische als auch die materiale Wertethik eines Max Schelers und Nicolai Hartmanns, die am Himmel eine Vielzahl universaler Werte entdeckt, gab ihnen ein normatives Rückgrat oder Gestell an die Hand, von dem aus sie die neuen Rechtsgrundsätze deduzierten.

Eine nicht ganz unbedeutende Rolle spielte dabei die "Radbruchsche Formel", die vom deutschen Rechtsphilosophen Gustav Radbruch stammt. Der zufolge habe ein Richter sich immer dann gegen das "positive Recht" zu entscheiden, wenn das im Konflikt mit Gerechtigkeitsfragen stehende Gesetz von ihm als "unerträglich" anzusehen ist und/oder darin die Gleichheit aller Menschen grundsätzlich bestritten wird. Bei späteren Entscheidungen, etwa bei den "Mauerschützen-Prozessen", kamen die Richter immer wieder darauf zurück.

Recht vernünftig begründen

Mit der Wiederherstellung eines allgemeinen Rechtsgefühls, dem Ausbruch eines nun beginnenden Wirtschaftswunders mit Exportboom und der gleichzeitigen "Amerikanisierung" (Westorientierung) der Bundesrepublik verliert das Naturrecht an Attraktivität und damit auch seine Bedeutung für das Recht. Aus dem Grundgesetz wird eine "objektive Wertordnung", die fortan auf alle Rechtswege ausstrahlt. Hofmann sprach in diesem Zusammenhang auch von einer "Sakralisierung" der Verfassung in der Jurisprudenz, weil man die darin befindlichen Werte höher hängt als sie es tatsächlich und in Wirklichkeit sind. Da sie anders als etwa Normen in Widerspruch mit anderen geraten können und auch dem historischen Wandel unterliegen, wäre es besser, von "Grundsätzen und Prinzipien" zu sprechen statt von Werten. Mit der Großen Koalition und dem Versuch einer staatlichen Großsteuerung der Verhältnisse durch die Politik und ihrer Technokraten erfasst der Zukunftsoptimismus, der jene Jahre bis zum Ölpreis-Shock prägt, auch das Recht. Das neue Planungsrecht fordert von Juristen auf einmal auch sozialtechnologische Kompetenzen. Fortan geht es nicht mehr um Ontologien, sondern um soziale Funktionen, nicht mehr um Wünschbarkeiten, sondern um sprachliche Begründungen. Die Rechtstheorie, die an die Ergebnisse der analytischen Sprachphilosophie andockt und erneut eine strikte Trennung von Recht und Moral, von Sein und Sollen verlangt, löst die Rechtsphilosophie ab. Durch den so genannten "Positivismus-Streit", der, ausgelöst durch den Neo-Marxismus der Frankfurter Schule, die Trennung von Recht und Leben bestreitet und stattdessen lieber vom "totalitären Lebenszusammenhang" ausgeht, sieht sich das Recht erneut mit Forderungen und Ansprüchen des Politischen konfrontiert und herausgefordert.

Neues soziales Regulativ

Mit dem Ende des Reformeifers, der von steigender Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und Umweltbelastung begleitet und herbeigeführt wird, geraten auch die Sozialsysteme zunehmend in die Krise. Die Verunsicherung der Bürger wächst, das ökonomische Krisenmanagement hält nicht das, was es verspricht, und, obwohl der Staat weitere soziale Wohltaten an seine Bürger verteilt, öffnet sich die soziale Schere weiter.

Mitte der Siebziger erscheint John Rawls "Gerechtigkeitstheorie", die eine "gerechte Güterverteilung" und einen "Ausgleich der Lasten" unter den Akteuren und Gruppen anmahnt. Mit ihr und der Debatte, die dazu auch hierzulande ausbricht, wird "soziale Gerechtigkeit" wieder zum Zentralbegriff des Rechts. Obwohl Kritiker wie der Philosoph Ottfried Höffe den Ertrag von Rawls Buch letztlich für sehr gering erachten, elektrisiert das Buch eine "kritische Generation", darunter auch Jürgen Habermas.

Er und seine Schüler gehen nun dazu über, das Recht aus der Sicht des Citoyens zu betrachten. Danach besteht kein Gegensatz mehr zwischen Rechtssetzung und Rechtsanwendung. Obzwar der juristische Diskurs ein Sonderfall ist, weil er a) an Gesetze gebunden ist und b) folglich auch nicht jeder mitreden kann und darf, soll das Recht kommunikativ und demokratisch verflüssigt werden.

Künftig soll das Recht keinen Eigen- oder Sonderbereich mehr bilden, sondern in den Dienst authentisch debattierender Akteure fallen. Abgesehen davon, dass mit diesem rousseauschen Wunsch nach einer konsensuellen Aushandlung des Rechts durch räsonierender Bürger auch vormalige Rechtsprinzipien ausgehebelt werden, zucke, so Hofmann kühl, jeder "vernünftige" Verfassungsjurist, bei einer derart "anarchistischen Entfesselung der Kommunikation", wie sie sich Habermas herbeisehne, unmerklich zusammen, zumal sie das Spannungsverhältnis von Recht und Politischen auflöse und die Gewaltenteilung kassiere.

Mittlerweile sei "soziale Gerechtigkeit", jenseits allem normativen Anschein, den sie wecke, aber zum politischen Schlagwort verkommen. Weder gäbe es einen Konsens darüber, was als "sozial gerecht" angesehen werden könne, noch sei sie aufgrund ihrer Komplexität jemals vollkommen einlösbar. Weil sie allenfalls zur "regulativen Idee" tauge, sei es ein Unglück für das Recht, dass sie zu einem solchen Megathema aufgebauscht werden konnte.

Universalisierung des westlichen Rechts

Mit dem Fall der Mauer und dem Ende der bipolaren Weltordnung, der politischen Neustrukturierung im Osten und der Ankunft der Bundesrepublik Deutschland in der "Weltgesellschaft" konstitutionalisiert sich ein neues "Weltbürgerrecht", das auf eine Ausweitung und "Universalisierung" der (westlich interpretierten) Menschenrechte drängt. Aus dem einstigen "Recht der Staaten" wird ein "Recht der Individuen".

Gleichzeitig trete mit ihrer Globalisierung auch die Janusköpfigkeit der Menschenrechte zutage. Der Eurozentrismus, der in ihnen enthalten ist, gerate nämlich in Konflikt und Widerspruch mit Gesellschaften, die eher gemeinschaftlich als individualistisch angelegt sind. Um diesem Dilemma zu entgehen, sei es laut Hoffnung besser, die Menschenrechte in Schutzrechte umzudeuten, also in den Schutz von Personen, Gruppen und Minderheiten vor Verletzlichkeit, Demütigung, Verfolgung und Ausbeutung. Wie überhaupt der Verfassungsrechtler sich über die Zukunft der Menschenrechte nicht allzu optimistisch äußerte. Seiner Ansicht nach würden sie sehr bald auf dem "Altar der Menschenrechte" geopfert, zumindest die westliche Vorstellung von ihnen.

Bemerkenswert war neben dem rasanten Wandel, den die Geschichte des Rechts seit 1945 in der Bundesrepublik Deutschland genommen hat, nicht nur die Erkenntnis, dass das Rechtsdenken und die Rechtspflege von temporären Ereignissen, als vielmehr auch und vor allem von den Mentalitäten einer bestimmten Generation geprägt, bestimmt und geformt wird.

War es anfangs noch eine "skeptische Generation" (H. Schelsky), die die Grenzen der materialen Wertphilosophie (wertfühlend, intuitiv, historisch begrenzt) auslotete und ihr folgerichtig den Garaus machte, war es zunächst eine "revoltierende Generation", die das Legalitätsprinzip unter Berufung auf das Leben und soziale Gerechtigkeit offen in Frage stellte und später dann eine "kritische Generation", die das Recht politisch einhegen, demokratisch begründen und kommunikativ aushandeln wollte.

Das Recht muss das Recht schützen

Bemerkenswert war aber auch, mit welcher Vehemenz der Verfassungsrechtler die Eigenständigkeit und möglicherweise auch Eigensinnigkeit des Rechts gegenüber allen aktuellen Ansprüchen verteidigte, die eine "rechthaberische", mitunter auch "anspruchsvolle Generation" seit der Rückkehr der "Gerechtigkeitsidee" und der Etablierung einer von politischen Interessen geleiteten "Menschenrechtsfrage" gegenüber dem Recht zunehmend erhebt und einnimmt.

Angesichts solcher Zu-, Durch- und Übergriffe, wie sie derzeit von Staaten und Regierungen, man denke an die Aufweichung und Aushöhlung von Stabilitätskriterien oder Institutionen, gezielt und bewusst unternommen werden, um sich das Recht zu Diensten zu machen; und angesichts der Versuche gesellschaftlicher Gruppen, man denke an die Verhinderung von Bahnhöfen, Startbahnen oder Autobahnen, bestimmte Eigen- oder Sonderinteressen unter Berufung auf legitime Rechte des Volkes oder der Straße gegenüber geltendem Recht durchzusetzen, bräuchte es einer neuen "skeptischen Generation", die sich mit Macht und Verve solchen Zumutungen der Politik und des Politischen mutig entgegenstemmt und für die "Würde" (Dignität) des Rechts streitet.

Die Hoffnung, dass eine solche Generation mit einer solchen Haltung wieder im Kommen ist, ist jedoch sehr gering, solange selbst das Verfassungsgericht, wenn es hart auf hart kommt, wie jüngst in der Rettungsschirmpolitik der Regierung und des Parlaments geschehen, vor den Begehrlichkeiten der Politik und den "Alternativlosigkeiten", die sie schafft, in die Knie geht.