"Es liegt allein an uns"

Zbigniew Brzezinski über den Aufstieg der anderen, die moderierende Rolle, die Amerika künftig in der Welt wahrnehmen soll, sowie die Folgen, die ein Krieg mit dem Iran haben könnte

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In Rente gehen und sich zur Ruhe setzen, mit 67 oder 70, kennt Zbigniew Brzezinski nicht. Auch mit über 84 Jahren ist der einstige Direktor der "Trilateralen Kommission", Sicherheitsberater Jimmy Carters, Architekt des afghanischen Widerstands gegen die Sowjets und Autor von "The Grand Chessboard" so emsig und umtriebig wie eh und je.

Erst im Frühjahr hat er, nachdem er eine Zeitlang den Präsidenten Obama zu beraten verrsucht hat, wieder einen neuen "Matchplan" für die USA ausgeheckt, eine "Strategic Vision" für die erste Hälfte dieses Jahrhunderts.

Mancher Beobachter hat die Wandlung, die die graue Eminenz der US-amerikanischen Politberatung darin vornimmt, sehr erstaunt. Zumal er ihnen meist nur als heftiger Befürworter einer Eindämmung des kommunistischen Machtbereichs bei gleichzeitiger Sicherung und Ausweitung des amerikanisch-westlichen Einflusses auf dem "eurasischen Balkan" aufgefallen ist.

Doch der Amerikaner mit polnischen Wurzeln war schon immer mehr als ein "Kommunistenfresser" und bloßer "Kalter Krieger". Gewiss war er vor mehr als dreißig Jahren hauptverantwortlich für die Unterstützung der afghanischen Mujaheddin und dafür, dass die damalige Sowjetunion ihr "Vietnam" am Hindukusch erlebte hat und damit ihr Untergang auf rasante Weise beschleunigt wurde.

Gleichwohl war Zbigniew Brzezinski immer auch mehr als das. Er war nicht nur Schreibtischstratege und kühler Analytiker US-amerikanischer Machtpolitik, sondern auch und vor allem aufmerksam und aufgeschlossen gegenüber globalen Transformationen, besonders den technischen oder "technotronischen", wie er sie nannte.

Revolutionäre Gesellschaft

So handelte sein erstes Großwerk "Between Two Ages", bereits 1969 veröffentlicht und hierzulande wenig beachtet, vom Übergang von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft, als die meisten politischen Beobachter und Kommentatoren noch die nationale Brille auf der Nase trugen.

Anders als der US-amerikanische Soziologe Daniel Bell wollte Brzezinski ihn nicht an der Ausweitung des tertiären Sektors (Dienstleistung) auf Kosten der anderen (Produktion) festmachen, sondern an neuen Medien- und Kommunikationstechnologien, an Vernetzung und Digitalisierung. Er war überzeugt, dass dieser technische Wandel zu mehr gegenseitigen Abhängigkeiten und Kooperationen führe werde und die Staaten vermehrt zur Verabschiedung internationaler Abkommen, Bündnisse und Vereinbarungen zwinge.

Für diese neue "technotronische Ära", die man heute schlicht "Globalisierung" nennt, hielt er bereits damals die USA, die dank ihrer ethnischen Vielheiten und kulturellen Diversitäten auf dem Sprung waren, die erste wirklich "globale Gesellschaft der Geschichte" zu werden, für bestens gerüstet. Für ihn waren die USA darum nicht bloß ein "Modell für die übrige Welt", sondern sogar eine "world-transforming society, even revolutionary in its subversive impact on sovereignty-based international politics."

Und das nicht nur, weil sie "Katalysator", mithin Träger und Motor der "technotronischen" Revolution waren, einem Wortmix aus Technologie und Elektronik. Sondern auch, weil das Land nach dem Ende von WK II einen Entwurf politischer und kultureller (Post)Modernität entwickelt (Softpower) hatte, den zwei Drittel der Menschheit damals in den 1970ern und ff. als besonders nachahmungs- bzw. begehrenswert empfanden: den American Way of Life.

Immer das Ganze im Auge

Darum ist es in meinen Augen nicht besonders überraschend, wenn Brzezinski sein geopolitisches Weltbild, das in den 1980ern noch maßgeblich von dem Briten Sir Halford Mackinder geprägt worden war, revidiert und jetzt weniger vom Zurückdrängen, Eindämmen oder gar Einkreisen Russlands spricht, als vielmehr von gemeinsamen Absprachen, Abkommen und Kooperation mit dem einstigen Staatsfeind Nummer eins.

Bereits vor vier Jahren mahnte er ungeachtet des schwelenden Georgien-Konflikts in der "New York Times" allzu aufgeregte Politiker in Washington zur Mäßigung und Besonnenheit. Trotz aller Kalamitäten in und um das Kaspische Meer, das mit seinen reichen Erdölvorkommen Begehrlichkeiten sowohl in den USA als auch in Europa weckt, dürfe das längerfristige Ziel "a democratic Russia that is a constructive participant in a global system based on respect for sovereignty, law and democracy" nicht aus dem Auge verloren werden.

Und nochmals vier Jahre davor, spätestens seit der für die einstige "einzige Weltmacht" verhängnisvoller Kampagne im Irak, hatte er sich längst zu einem Befürworter einer mäßigenden, weniger forschen Machtpolitik entwickelt. Statt von einem "neuen Rom", von "Alleingängen" und "globaler Vorherrschaft" zu schwadronieren, wie es die Neocons post 11. September im Sinn hatten, forderte er sein Land dazu auf, sich an die Spitze der Staaten zu setzen und die Globalisierung politisch federführend zu moderieren und zu gestalten ( The Choice).

Niedergang und Global Shift

Freilich erfolgt sein politischer Sinneswandel nicht ganz freiwillig. Längst befinden sich die USA nicht mehr in der Pole Position wie noch vor fünfzig Jahren oder kurz nach dem Fall der Mauer. Das "unipolare Moment" und "Gullivers Reisen" haben nur einen kurzen geopolitischen Sommer gedauert, genau eine Dekade lang.

Die Kriege in Afghanistan und im Irak und das riesige Defizit im Budget, die Finanzkrise und die marode Bildungs- und Infrastruktur vor allem auf dem Land haben die USA nicht nur mental geschwächt, sondern ihren weltweiten Aktionsradius erheblich eingeschränkt. Das Land ist (kriegs)müde und mehr mit sich selbst und seinen hausgemachten Problemen beschäftigt als mit denen der anderen.

Brzezinski zufolge verhält es sich sogar ziemlich schlimm. In seinen Augen befindet sich die einstige Weltmacht Nummer eins in einer ähnlichen Situation wie die Sowjetunion in den 1980ern. Die Gier einiger weniger über das soziale Wachstum habe das Land (wie im Übrigen den gesamten Westen) politisch gelähmt und es in eine tiefe Krise gestürzt. Während die Eliten ihre Privilegien verteidigten, die politische Klasse abgehoben agiere und sich kaum noch um die Belange des eigenen Volkes kümmere, sinke der Lebensstandard der Mehrheit gewaltig und die soziale Schere klaffe immer weiter auseinander.

Und auch in der Außendarstellung mache das Land längst keine "bella figura" mehr. Von der einstigen Softpower, der Anziehungskraft amerikanischer Werte, sei wenig bis nichts geblieben. Der Ansehens- und Legitimationsverlust US-amerikanischer Außenpolitik, befeuert durch dreiste Lügen und Selbstermächtigungen, militärische Abenteuer und rechtlich fragwürdige Entscheidungen seiner politischen Führer, sei dramatisch und der "anti-amerikanische Effekt" größer als jemals zuvor.

Begleitet und verschärft werde Amerikas Abstieg durch den Aufstieg der anderen, durch Brasilien, Indien und vor allem China. Damit gehe auch eine 500jährige Epoche atlantischer Vorherrschaft zu Ende. Da die Welt "vielschichtiger und komplexer" geworden sei, so auch seine Standardformel, könne die USA den anderen auch nicht mehr diktieren, wie sie Politik zu machen oder sich moralisch zu verhalten hätten. Die multipolare Welt nötige die USA sich mit den anderen aufstrebenden Mächten zu arrangieren und mit ihnen in einen Dialog einzutreten.

Zugleich ist er aber nach wie vor überzeugt, dass dieser Macht-, Ansehens- und Bedeutungsverlust, den der "Global Shift" von West nach Ost für die USA mit sich bringt, nicht das Ende des amerikanischen Einflusses in der Welt nach sich ziehen muss. "Es liegt allein an uns, ob wir dabei ins Hintertreffen geraten oder den Wandel entscheidend mitbestimmen werden", sagte er jüngst einem Reporter von "The National Interest". "Nur wenn wir intelligent agieren, uns auf die neuen Bedingungen einstellen und wir uns ihnen stellen, werden wir auch weiter die treibende politische Kraft in der Welt bleiben." Zumal auch die aufstrebenden Nationen vor gigantischen Herausforderungen und Problemen stünden, die sie erst mal meistern müssten.

Noch stünden die USA nämlich vergleichsweise gut da, auch was die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Daten und Standards angehe. Damit das so bleibe, müsste sich die Öffentlichkeit und vor allem die amerikanische Bevölkerung mehr um das Verständnis der Angelegenheiten jenseits des Atlantiks und Pazifiks bemühen. Hier bestünde nach wie vor ein grobes Missverhältnis und ein großer Nachholbedarf. Weswegen seine Landsleute auch so anfällig für Demagogen seien. Die Menschen über Geografie und Geschichte besser zu informieren, sie daher die Aufgabe der Medien.

Skepsis angebracht

Um wieder Herr der Lage zu werden, schlägt er deshalb als erste und vordringlichste Aufgabe das Knüpfen eines neuen Bündnisses mit der Türkei und Russland vor, also mit jenen Ländern, die wegen ihrer "westlichen Schlagseite" kulturell und mental eine Brücke zu den muslimischen und asiatischen Staaten und Völkern bilden und/oder eröffnen könnten.

Nur wenn den USA diese freundschaftliche Umgarnung der genannten Länder gelänge, sie nicht mehr wie wild lostrampelnder Gulliver durch die Welt stolperten und in Fernost eine eher ausgleichende und moderierende Rolle gegenüber China und dessen Konflikten mit den Anrainerstaaten, namentlich mit Japan, einnähmen, werde das Land weiter jene "unverzichtbare Nation" sein, zu der Madeleine Albright das Land einst machen wollte.

Ob die beiden Länder auf dieses fürsorgliche Ansinnen des US-Strategen eingehen und seine Sichtweise einer künftig eher moderierenden Rolle der USA honorieren, steht allerdings in den Sternen. Zu tief sitzt das Misstrauen gegenüber Washington und des Mannes im Weißen Haus. Auch Obama hat das in den vier Jahren seine Präsidentschaft trotz aller seiner schönen Worte, die er in Prag und Kairo gefunden hat, nicht ausräumen können.

Der Drohnenkrieg am Hindukusch, die weltweit verteilten Gefangenlager sowie der Sündenfall in Libyen sind nicht vergessen. Nicht zuletzt wegen letzterem scheitern bislang alle Bestrebungen, Russland und China zum Einlenken zu bewegen und die syrische Tragödie zu beenden. Mal abgesehen von dem westlichen Universalismus, dem sowohl Moskau als auch Peking abweisend gegenüber stehen und als neue Form des Kolonialismus betrachten.

Große Aufmerksamkeit widmet Brzezinski nach wie vor seinem Steckenpferd, dem Größeren Mittleren Osten. Der Versuch, eine Demokratie nach westlichem Vorbild am Hindukusch zu errichten, in einer mittelalterlich fragmentierten Gesellschaft, sei hanebüchener Blödsinn gewesen. Der unnötig vom Zaun gebrochene Irak-Krieg danach habe zudem die vormalige Stabilität im arabischen Raum zerstört.

Mit dem Sturz Saddam Husseins sei nicht nur jener wichtige Stützpfeiler weggebrochen, der für politischen Halt und Beständigkeit in der Region stand, mit ihm habe man auch seinen Nachbarn, den Iran, in eine Pole Position am Golf gebracht, die Teheran weidlich nutzen will. Weil es zu dem Mullah-Regime kaum eine politische Alternative gibt, hat er schon vor Jahren gefordert, den Iran als "neuen Stabilitätsfaktor" in der Region anzuerkennen.

Ständiger Unruheherd Palästina

Ein ständiger Zankapfel und Unruheherd wird seiner Meinung nach weiter Palästina bleiben. Frieden sei dort nicht zu erwarten, weder mittel- noch langfristig. Vor allem wegen der israelischen Siedlungspolitik gibt er der zwei Staaten-Lösung keine Chance mehr. Zumal niemand mehr bereitstünde, Israel zu Zugeständnissen zu bewegen und den Friedensprozess voranzutreiben. Auch die USA nicht, da jeder amerikanische Präsident sofort innenpolitischer Pressionen ausgesetzt sei, wenn er sich dafür stark mache. Andererseits seien die Palästinenser viel zu geschwächt, als dass Israel sich genötigt fühle, auf sie zuzugehen und Kompromisse zu schließen.

Vor einem möglichen militärischen Konflikt mit dem Iran warnt er allerdings vehement. "Es sei zwar leicht, einen Krieg anzufangen, ihn wieder zu beenden dagegen nicht", stellt er wohl mit Blick auf den Krieg in Afghanistan fest. Das gelte für Israel genauso wie für sein Land. Zudem seien die Folgen nahezu unkalkulierbar. Zwar würden es die Iraner nicht schaffen, massive Vergeltung an Israel zu üben. Und es dürfte ihnen auch nicht gelingen, die Straße von Hormuz zu schließen. Dafür würde schon die US-Marine sorgen.

Die Energiekosten würden jedoch in ungeahnte Höhe schießen und die fragile Weltwirtschaft weiter gefährden und zum Absturz bringen. Die Russen würden sich über den hohen Ölpreis freilich die Hände reiben, weil sie plötzlich über jene Kapitalmenge verfügten, die sie für eine Runderneuerung ihrer Gesellschaft bräuchten, während Europa, das abhängig von russischen Lieferungen ist, in weitere wirtschaftliche Nöte geraten würde.

Schließlich könnten iranische Kommandos für Unruhe sorgen, im Irak genauso wie in Afghanistan. Sie könnten US-amerikanische Basen angreifen und andere Terroraktionen in westlichen Hauptstädten begehen. Schon deswegen gebe es keine Alternative zu weiteren Verhandlungen mit dem Iran über sein Nuklearprogramm, die er im Übrigen auf einem guten Weg sieht.

Eine Einigung könnte etwa so aussehen, dass die internationale Gemeinschaft Teheran die Anreicherung von Nuklearmaterial auf einer niedrigen Stufe zugesteht, wenn das Land sich gleichzeitig dazu verpflichtet, ein Abkommen zur Nicht-Proliferation zu unterzeichnen.