Imponieren mit gelesenen Büchern

Eine überholte Kulturtechnik?

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Das Lesen soll sich ja revolutionieren, durch den Amazon-Kindle, den Sony-Reader und das neue deutsche elektronische Lesegerät Txtr. Und andrerseits durch Leser, die durch Google und Internet verdummt werden, wie dies der amerikanische Autor Nicholas Carr im letzten Sommer vermutete. Seine These, dass das Lesen im Internet den Geist derart zerstreue, dass man sich auf keinen anspruchsvollen, längeren Text mehr konzentrieren könne - "Vertieftes Lesen wird zu einem Kampf" - traf einen Nerv, denn sie sorgte vielerorts für Erregung und Gegenargumente.

Nicht nur Antiquariate, Verlage, Kulturpessimisten und Lehrer in Cordhosen beunruhigt diese Entwicklung. All jene, die in aller Stille mit Büchern Kultur, Prestige und guten Stil verbinden, dürfen sich jetzt ruhig über zwei Nachrichten aus Großbritannien freuen. Demnach bleibt es im Vereinigten Königreich weiterhin wichtig, welches Buch man liest, um seine Verabredung zu beeindrucken. Und die Frage, welches Buch man gelesen hat, scheint im sozialen Umgang von so großer Relevanz zu sein, dass die Mehrheit der Briten zu Lügen Zuflucht nimmt, um sich keine Blöße zu geben. Darüber hinaus begnügt sich der Großteil der britischen Leser nicht mit dem viel beschworenen etwas kitschigen "Rascheln" von Holzbuchseiten, sondern sie knicken bei jeder Lesepause die Ecken der Bücher zu Eselsohren um - mehr und öfter als frühere Generationen - wenn das nicht echte sinnliche Liebe zum Material ist...

65% der britischen Leser gestanden in einer Umfrage, die der Guardian zitiert, dass sie schon einmal unehrlicher Weise vorgegeben hätten, ein Buch gelesen zu haben. Dass James Joyce's Ulysees dabei mit Platz drei eine Spitzenposition belegt, dürfte deutsche Leser nicht wirklich überraschen. Nimmt man hierzulande eine Exemplar dieses Buches aus einem privaten Bücherregal, zeigen höchstens die ersten dreißig Seiten Gebrauchsspuren. Der große Neuzugang unter den zeitgenössischen nichtgelesenen, aber gekauften Büchern dürfte in Deutschland Jonathan Littell: "Die Wohlgesinnten" sein.

Der britische Ranglistenerste bei den Büchern, die man vorgibt, gelesen zu haben, ist überraschenderweise der relativ dünne und nicht schwer zu lesende Roman "1984" von George Orwell, auf Platz zwei folgt weit weniger überraschend Tolstois "Krieg und Frieden" und nach James Joyce kommt gleich die Bibel.

Eine Praxis, die dem Autor aus allernächster Umgebung bekannt ist, ist laut Umfrage auch in Großbritannien üblich: Beinahe die Hälfte, 48 Prozent, der 1.342 befragten Briten bekannten, dass sie Bücher, die sie verschenken wollen, vorher selbst lesen.

Jeder fünfte Brite, so das Ergebnis einer zweiten Umfrage, über die der Guardian diese Woche berichtet hat, liest ein Buch, während er oder sie auf seine Verabredung wartet. Die Wahl des Buches ist nicht willkürlich und soll die erwartete Person beeindrucken. Männer würden gerne hochtrabende und ambitionierte Titel aus dem philosphischen und hochliterarischen Feld angeben, berichtet die Zeitung, keine große Überraschung. Aufhorchen läßt dagegen, dass ein Drittel der Frauen "physisch abgestoßen sind", wenn sie einen Mann sehen würden, der die gesammelten Kolumnen eines Sunday Times-Autors namens Jeremy Clarkson liest. Gutes altes Großbritannien, wo man mit Büchern noch angeben oder abstoßen kann. Wer achtet hierzulande noch auf Buchtitel in der Hand von anderen und reagiert darauf physisch?