"Ein vorfinanzierter Hörsturz"

Der Avantgardekomponist Johannes Kreidler hat aus Aktienkursen "Melodien für Millionen" gebastelt

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Als "Charts" bezeichnet man im Englischen nicht nur Musikhitparaden, sondern jede visuelle Abbildung von Daten – auch die der Entwicklung von Aktienkursen. Der Avantgardekomponist Johannes Kreidler, der im letzten Jahr durch die Kunstaktionen "Product Placements" und "Call Wolfgang" Aufsehen erregte, spielt in seinem am Wochenende erschienenen neuen Stück "Charts Music" mit diesen Bedeutungsoptionen: Die Abbildung der Daten ist dort nicht Ergebnis oder Zweck der Musik, sondern Mittel zu deren Entstehung.

Dazu nahm Kreidler aus Aktienkursen und anderen Entwicklungen gebildete Kurven, fütterte sie in Microsofts kürzlich erschienene Komponiersoftware "Songsmith" und schuf damit den visualisierten "Billion-Dollar-Song zur Finanzkrise" – beziehungsweise einen "vorfinanzierten Hörsturz", der allerdings unterschiedlich verläuft: Während es bei Lehman Brothers, der Bank of America und General Motors relativ schnell nach unten geht, beschreibt die Melodie zum Kurs der Microsoft-Aktie eher einen langsamen Abschwung.

Ansteigende Kurven liefern der deutsche Waffenhersteller Heckler und Koch, das Wachstum der Pornoindustrie und die US-Regierung mit Staatsschulden, Arbeitslosenrate und toten Soldaten. Die US-Regierung sorgt auch für den musikalisch interessantesten Teil des Stücks – einer doppelglockenartig verlaufenden Kurve der Anzahl der falschen Statements zum Irakkrieg. Beim Kurs der Warner Music Group, zu der ein CD-Rohling eingeblendet wird, fragt sich Kreidler, ob er für die Verwendung dieser digitalen Daten wohl von der Musikindustrie verklagt werden wird (und gibt den Firmen im Nachspann konsequenterweise auch ein Copyright an der Krisenkomposition).