Schwindsucht

Mehr noch als in der Fläche, nimmt das Meereis in der Arktis in der Masse ab

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Dass es ums arktische Eis schlecht bestellt ist, hat sich inzwischen herum gesprochen. Sommer für Sommer schrumpft seine Fläche im Rhythmus der Jahreszeiten zusammen, aber seit Beginn der Stellitenmessungen Ende der 1970er Jahre zeigen diese sommerlichen Minima einen deutlich negativen Trend. 2007 zog sich das Eis besonders weit zurück, aber auch in den folgenden Jahren fiel das jeweils gegen Mitte September eintretende Minimum weit unterdurchschnittlich aus.

Wenn über das Eis geschrieben wird, geht es meist um seine Ausdehnung in der Fläche, denn die ist das augenfälligste und lässt sich auch am besten mit Satelliten vermessen. Weniger gut bekannt ist hingegen die Eismasse. Um die zu ermitteln, muss auch die durchschnittliche Dicke herangezogen werden, doch hier ist die Datenlage weniger gut.

Aber was es an Informationen gibt, ist äußerst besorgniserregend. Schon zu Beginn der 1990er Jahre hat die Auswertung der bis dato unter Verschluss gehaltenen Sonardaten sowjetischer und US-amerikanischer Atomuboote aus der Zeit der Blockkonfrontation ergeben, dass die durchschnittliche Eisdicke seit den 1950er Jahren abgenommen hat.

Erst seit 2003 lieferte ICESat regelmäßige Daten über die Eisdicke, aber 2010 hat er schon wieder seinen Geist aufgegeben, wie New Scientist berichtet. Daneben gibt es noch das Projekt PIOMAS, in dessen Rahmen Zhang Jinlun und Kollegen am Zentrum für Polarwissenschaften der Universität von Washington in Seattle, USA, die Eismasse abschätzen. Sie füttern dafür ein Modell der arktischen Vereisung mit den realen Beobachtungsdaten der Eisbedeckung, der Meeresströmungen sowie der Windverhältnisse und berechnen daraus die Eismasse. Dort, wo sich diese Daten mit realen Beobachtungen vergleichen lassen, ergebe sich eine gute Übereinstimmung, schreibt New Scientist.

Ergebnis der Abschätzung: 1979 betrug die durchschnittliche Eismasse von Juli bis September noch 21.000 Kubikkilometer, 2009 nur noch 8.000. Das deckt sich mit der Beobachtung, dass das Eis inzwischen überwiegend nur noch ein Jahr alt ist. Dieses junge Eis ist dünner, weshalb es im Sommer bei entsprechendem Wetter wieder ganz verschwinden kann. Unter anderem bricht es bei Wellengang schneller auf, was das Tauen beschleunigt, und es kann leichter durch die Winde aus der Arktis in den Atlantik herausgedrückt werden. Letzteres ist neben dem Tauen ein wesentlicher Mechanismus des regelmäßigen sommerlichen Eisschwundes.

Auch das verbliebene ältere Eis, das sich hauptsächlich nördlich des kanadischen Archipels und dem benachbarten Grönland sammelt, ist nicht mehr das, was es mal war. New Scientist zitiert Augenzeugen, die bei Eisbrecherfahrten festgestellt haben, dass selbst die dickeren Eisflächen nicht mehr geschlossen sind, sondern aus oft nur aus einzelnen Schollen bestehen, zwischen denen sich im Winter nur vergleichsweise dünnes Eis bildet. Das macht auch diese Eis anfälliger für Winde, die sie aus der Arktis hinaustreiben könnten. Insgesamt ist das arktische Meereis also heute wesentlich instabiler, als noch vor 20 Jahren.

Offensichtlich wird diese Eisdynamik allerdings nur von den wenigsten Klimamodellen richtig erfasst. Der Rückgang der letzten Jahre ist erheblich stärker ausgefallen, als 21 von 23 Modellen vorhersagten, deren Daten in den letzten Bericht des IPCC eingeflossen sind. Daher gehen viele Polarforscher davon aus, dass wir den ersten eisfreien Sommer in der Arktis nicht erst nach 2050 erleben werden, wie bisher angenommen wurde – in den 1990er war man sogar noch von einer Zeit nach 2100 ausgegangen –, sondern schon irgendwann in den kommenden Jahrzehnten.

Das sind alles andere als gemütliche Aussichten. Sollte der arktische Ozean künftig im Sommer eisfrei bleiben, hätte das weitreichende Folgen für das globale Klima. Das nächstliegende wäre die drastische Verschiebung von Klimazonen in auf der nördlichen Hemisphäre, was unter anderem für die Landwirtschaft dort erhebliche Anpassungsprobleme mit sich bringen würde und entsprechende Gefahren für die Welternährung in sich birgt.

Besonders schwerwiegend wären allerdings die positiven Rückkoppelungen, die angestoßen würden. Durch das Auftauen der Permafrostböden in Sibirien, Alaska und Kanada würden große Mengen zusätzlicher Treibhausgase freigesetzt, denn der Boden enthält unzählige tote Pflanzen und Tiere, die dort seit dem Beginn der letzten Eiszeit vor 120.000 Jahren angesammelt wurden. Diese Pflanzenreste und Kadaver würden anfangen zu verwesen und dabei CO2 oder auch Methan freisetzen. Ebenso würden vermutlich Gashydrate, in denen am Grunde des flachen Schelfsmeeres vor der Küste Sibirien große Mengen des sehr effektiven Treibhausgases Methan eingeschlossen sind, destabilisiert werden. Das Ergebnis könnte durchaus eine globale Erwärmung sein, die über die schlimmsten Szenarien des IPCC-Berichts hinausgeht.