Westerwelle und die soziale Ader

"Aufruf zur sozialen Spaltung": Hartz IV-Debatte im Bundestag

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Seit Wochen wird die von FDP-Chef Westerwelle angestoßene Debatte über die Perspektive von Hartz IV in den Medien geführt. Auf Antrag der Grünen hat sich jetzt auch der Bundestag damit befasst. Sie bezeichneten Westerwelles Beiträge als "Aufruf zur sozialen Spaltung" und monierten das Schweigen der Bundeskanzlerin. Das hat sie mittlerweile gebrochen. In einem FAZ-Gespräch hat Merkel vor allem Westerwelles Gestus als vermeintlicher Tabubrecher kritisiert.

Erwartungsgemäß überwog in der Parlamentsdebatte parteitaktisch motiviertes Geplänkel im Vorfeld der zum bundesweiten Stimmungstest hochgejazzten Landtagswahl in NRW. So warf die SPD-Arbeitsexpertin Anette Kramme Westerwelle vor, "sich nicht im Zeitalter spätrömischer Dekadenz befinden, sondern eher im Zeitalter spätmittelalterlicher Hexenjagd. Da werden die Armen gegen die Armen in Stellung gebracht, da werden Heerscharen von Schmarotzern und Betrügern herbeizitiert, die heuschreckenartig über den Sozialstaat herfallen und ihn kahlfressen. Florida-Rolf ist die Ausnahme, nicht die Regel."

Klaus Ernst von den Linken versuchte, den Spieß umzudrehen: "Im alten Rom waren es nicht die Sklaven, nicht die Unfreien und auch nicht die unteren Schichten der Gesellschaft, die in Dekadenz gelebt haben, sondern es war die politische und wirtschaftliche Führung. Ich habe den Eindruck, heute ist es wieder so. Herr Westerwelle, Leistungsverweigerer leben in Deutschland nicht von Hartz IV. Die Kontrolle des Kontostands und die Entscheidung, wie viel Geld ins Ausland transferiert wird, ist keine besondere Leistung. Deshalb sage ich Ihnen: Die Leistungsverweigerer in diesem Land sind die Steuerhinterzieher und die Spekulanten und nicht Leute, die im Hartz-Bezug sind."

Der Gescholtene erinnerte Grüne und SPD dagegen an die jüngere Historie, als beide Parteien die Hartz-IV-Reformen wesentlich vorangetrieben haben. Die ersten Maßnahmen der schwarzgelben Bundesregierung zur Erhöhung des Schonvermögens für Hartz IV-Empfänger seien von mehr sozialer Sensibilität geprägt gewesen als die Politik der Vorgängerregierungen, lobte sich Westerwelle. Er legte Wert auf die Feststellung, keine Richterschelte wegen des Hartz IV-Urteils betrieben zu haben.

Seine Kernaussagen, dass sich Leistung wieder lohnen müsse und wer arbeitet, mehr haben müsse als Erwerbslose, bekräftigte er ausdrücklich. Gleichzeitig erteilte er Forderungen nach einem flächendeckenden Mindestlohn eine Absage. Damit bestätigte er Kritiker, die vermuten, dass es ihm mit der Debatte vor allem um die Ausweitung des Niedriglohnsektors geht, der durch die Absenkung von Leistungen für Erwerbslose vergrößert wird. Auf diese Kritik ist Merkel in dem FAZ-Interview nicht eingegangen, wo sie zentrale Thesen ihres Außenministers bekräftigt hat:

"Für alle Mitglieder der Bundesregierung ist es selbstverständlich, dass jemand, der arbeitet, mehr bekommen muss als jemand, der nicht arbeitet. Dazu herrscht große Übereinstimmung bis in die Oppositionsparteien hinein."