"Keller beim Fritzl" oder "Kristallnacht der Einkäufe"

Polen: Grenzen der Werbefreiheit

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Die Aufregung war kurz aber heftig: Der Geschäftsmann Robert Surowiecki warb via Facebook für eine Souterrain-Kneipe in Warschau mit dem Namen "Keller beim Fritzl". Eine Anspielung auf den Straftäter aus dem österreichischen Amstetten, der mit seiner eingesperrten Tochter mehrere Kinder zeugte. Neben dem Konterfei Fritzls waren auf der mittlerweile veränderten Facebookseite die Namen prominenter Opfer wie Natascha Kampusch oder Jaycee Lee Dugard aufgeführt, die in den USA 18 Jahre gefangen gehalten wurde.

Vor dem Kneipenkeller, der am 18. Januar eröffnet werden sollte, sammelten sich sogleich die Fernsehjournalisten, die aber, wie sie beteuerten, ihr Material nur ins Internet stellen wollten, um keine zu große Werbung für die Spelunke zu betreiben. Kinderrechtsvereine, eine Bürgerinitiative sowie Beamte der Stadt setzten Surowiecki zu, den Namen zurückzunehmen, nach einem Tag gab er klein bei, die Stadt als Besitzer des Lokals will nun den Mietvertrag kündigen.

Was darf Werbung?, fragte sich darauf heute die einflussreiche Tageszeitung Gazeta Wyborcza. Das freiheitsbewußte Polen hat eine großzügige Gesetzgebung was die Werbung angeht. In Quantität und Qualität testet die Werbung ihre Grenzen aus.

In der Innenstadt Warschaus sind ganze Fassaden von Hochhäusern mit Werbeflächen bedeckt, so dass manche Hotelgäste gar nicht hinaus schauen können, im Vorstadtbereich dominieren Billboards. Werbeträger geben Unsummen aus, um amerikanische Stars wie Mike Tyson, Bruce Willis oder Chuck Norris an die Weichsel zu holen. Auch Bordelle arbeiten mittlerweile mit Riesenwerbeflächen. Zur Weihnachtszeit wurde in Lodz zur "Kristallnacht der Einkäufe" geladen.

Doch es regt sich Widerstand. Gegen die "Invasion der Reklame" agiert die Künstlergruppe "Meine Stadt und ich in ihr", die auch schon einen beachteten Bildband über die Billboardisierung Polens herausgebracht hat.

Als erfolgreiche Werbe-Tugendwächter konnte sich die Organisation "Deine Angelegenheit" (Twoja Sprawa) etablieren, mit Auftritten in den Abendnachrichten. Auf ihre Klagen geht der polnische Werberat zunehmend ein. Auch die Warschauer Verkehrsbetriebe wollen künftig auf den Rat der offiziell unpolitischen Vereinigung hören. Im März will die Vereinigung im polnischen Sejm ein Seminar zu den Gefahren einer sexualisierten Werbung abhalten. Bei kontroversen Kunstwerken wurde ebenfalls schon reagiert.

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Werbekampagne mit Lenin

Twoja Sprawa, die auf die geplante Fritzl-Kneipe gleich reagiert hat, konnte vor einigen Tagen an einen größeren Sieg erinnern – unter anderem auf ihren Druck zog das Mobilfunkunternehmen "heyah" seine großangelegte Kampagne mit Lenin als Werbeträger zurück. Auch das Institut für nationales Gedenken (IPN), eine Art polnische Gauck-Behörde, protestierte. Die Spots werden seit einigen Tagen nicht mehr ausgestrahlt, die Plakate hängen jedoch noch. Nun werden die polnischen Konsumenten von "Twoja Sprawa" aufgefordert, die Muttergesellschaft Deutsche Telekom mit Protestmails zu bedecken.