Hand Gottes 2.0

Müssen Siege und Niederlagen im Sport künftig auch nach dem Wahren, Guten und Schönen bewertet und beurteilt werden?

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Der tragischste Held der WM heißt zweifellos Asamoah Gyan, Sturmführer des ghanaischen Teams. In der allerletzten Minute der Verlängerung des Viertelfinals gegen Uruquay hatte er das Weiterkommen seines Teams buchstäblich auf dem "Schlappen". Er schnappte sich den Ball, trat zum Elfmeter an und – knallte den Ball an die Oberkante der Torlatte.

Verursacht hatte den Strafstoß der uruquayische Stürmer Luis Suárez. Er blockte den Kopfball des Ghanaers Dominic Adiyiah in Volleyballmanier auf der Torlinie und wurde folglich wegen dieser groben Unsportlichkeit zu Recht vom Schiedsrichter mit der roten Karte bestraft.

Druck zu groß

Für Ghana war Gyans Fehlschuss folgenreich. Danach kam es nämlich zum Shoot-out, das Ghana verlor und damit auch die einmalige Chance, als erstes afrikanisches Team das Halbfinale einer WM zu erreichen. Der Druck, der auf dem Schützen lastete, nämlich der einer Nation oder gar eines ganzen Kontinents, war offensichtlich zu groß.

Tragisch war sein Versagen aber auch, weil er sich im Verlauf des Turniers als sicherer Strafstoßschütze gezeigt hatte. In den vorausgegangenen Begegnungen hatte er bereits zwei Penalties verwandelt. Und auch im anschließenden Elfmeterschießen präsentierte er sich nervenstark und verwandelte seinen Strafstoß kühl ins obere rechte Toreck.

Feindseligkeiten von Seiten seiner Mitspieler, die den untröstlich Weinenden in den Arm nahmen und ihn trösteten, oder gar von den ghanaischen Fans muss Gyan aber nicht fürchten. Hatte man ihn nach dem Africa-Cup vor zwei Jahren wegen des Vergebens einiger glasklarer Chancen noch offen angefeindet – seine Familie musste vorübergehend unter Polizeischutz gestellt werden – , so erntete der Spieler des französischen Ligaclubs Stade Rennes diesmal nur aufmunternde Kommentare von Fans und Medien.

Schämt Euch!

Vergleichbares kann man über den "Torverhinderer", den Uruquayer Luis Suárez, wohl nicht behaupten. Obwohl sein absichtlichen Handspiels vom Schiedsrichter mit einem Platzverweis und dem Verhängen eines Strafstoßes regelkonform bestraft wurde, hob alsbald in den Medien, vor allem auch in den deutschen, eine merkwürdige Debatte über "Regelverstoß" und "Regelauslegung" an.

War es für den "Täter" Suárez "die Parade der WM", wofür er von der heimischen Presse und dem Staatspräsidenten gelobt und hymnisch gefeiert wurde, stellten einige miesepetrige Journalisten nicht nur eine Differenz zwischen "Regelverstoß" und "Regelkonformität" fest, sondern glaubten auch noch, die "Rechtmäßigkeit" der Bestrafung durch den Schiedsrichter in Zweifel ziehen zu müssen.

Obzwar der Spieler für das Halbfinale gesperrt ist und frühestens im Finale wieder mitwirken könnte, sprachen sie nicht nur von einer "zynischen" Regelauslegung, sondern erklärten die Dreifachbestrafung durch den Schiedsrichter (Elfmeter, Platzverweis, Spielsperre) gar für "inakzeptabel". So etwa der "Sportsfreund" Christian Zaschke in der SZ. Die Spieler Uruguays und ihr Trainer begingen einen "Denkfehler", so seine Meinung, wenn sie glaubten, die Sache sei erledigt, "weil das Handspiel den Regeln gemäß" vom Schiedsrichter "sanktioniert wurde."

Sie übersähen dabei aber, dass ihr Team das Halbfinale nur aufgrund dieser "Unsportlichkeit" erreicht hätte. Dass der Spieler Suárez sich danach gar von der "Hand Gottes" geleitet fühlte, jener Hand also, mit der seinerzeit auch Maradona seinem Team den Einzug ins Halbfinale gesichert hatte, und er sich obendrein auch noch von seinen Mitspielern auf den Schultern vom Feld tragen ließ, sei "beschämend" und nahe am "Betrug". Zwar sehe das Regelwerk für das Handspiel eine Bestrafung vor, aber darin keinesfalls ein Mittel zum "unlauteren" Sieg.

Moralisch bedenklich

Diese Haltung ist bemerkenswert und verwundert zugleich. Denn bislang haben sich die Kommentatoren, gleich, ob in Funk, Print oder Fernsehen, stets über diese Regelauslegung ereifert und ihren Sinn und Unsinn in Frage gestellt. Sie bestrafe nämlich, so die einhellige Meinung, die davon betroffene Mannschaft im Spiel unverhältnismäßig hoch, während die andere aus dieser Doppelbestrafung einen unzulässigen Vorteil ziehen kann. Fortan kann sie nämlich gegen eine dezimierte Mannschaft spielen, die vielleicht dadurch auch noch ihren Stammtorwart verloren hat.

Gilt diese Einstellung nicht mehr, wenn dieser Vorteil sich plötzlich, wie im Falle Ghanas, in einen Nachteil verkehrt? Muss man diese Regel überarbeiten und gar in sein Gegenteil verkehren, nur weil ein Spieler sich darüber freut, er als Held in die Annalen eines Landes eingeht und ein paar Journalisten diesen für alle Akteure überraschenden Ausgang für "moralisch" bedenklich halten? Entscheiden künftig Moral und Gesinnung über Sieg und Niederlagen? Werden Fußballspiele künftig auch nach "moralischen Gesichtspunkten" bewertet, beurteilt und am "grünen Tisch" entschieden?

Ab ins Priesterseminar Oscar Tábarez, der Trainer, und Luis Suárez haben Recht, so bitter das für Ghana auch sein mag. Uruguays Team hat weder jemanden betrogen, noch jemand "verhöhnt" oder gar "beleidigt". Wer das anders sieht oder damit ein Problem hat, der sollte seinen Lebensunterhalt besser mit anderen Dingen verdienen als mit Fußballreportagen. Er sollte entweder bei den Evangelikalen anheuern, den Jakobsweg gehen oder ein katholisches Priesterseminar besuchen.

Zudem hatte Ghanas Team kurz zuvor mehrere Gelegenheiten zum Siegtreffer. Und es hatte in Gestalt des Spielers Gyan die Möglichkeit, sich mit einem einzigen Kick ins Halbfinale zu schießen. Zumal das Spiel danach auch nicht mehr angepfiffen wurde. Dass die Afrikaner daraus keinen Nutzen zogen, wird den armen Gyan zwar in Albträumen bis an sein Lebensende verfolgen, sein persönliches Versagen oder Unglück sind aber weder dem Regelwerk noch den Siegern anzulasten.

Betrüger-Länder

Würde man Zaschkes Vorstellung zur Grundlage künftiger Ballspiele machen, dann hätte auch Frankreich die Fahrt ans Kap nicht antreten dürfen, Brasilien und Deutschland ihre Siege über die Elfenbeinküste und England zurückweisen und Argentinien Mexiko das Erreichen des Viertelfinales überlassen müssen.

Denn in allen diesen Fällen haben die Mannschaften nur oder möglicherweise aufgrund eines "moralischen" Vergehens – der Schiedsrichter hatte "Regelverstöße" (absichtliche Handspiele, Abseitssituationen und regulär erzieltes Tor) nicht "regelkonform" geahndet – die nächste Runde erreicht.

Der allgemeinen Freude, sieht man mal vom Fall Frankreich ab, hat das jedoch keinerlei Abbruch getan. Im Gegenteil! Jubel und Begeisterung verbreiteten auch all unsere Medienvertreter ob des grandiosen Sieges der deutschen Mannschaft. Oder hat jemand irgendwo gehört oder gelesen, dass einer der Journalisten den Sieg Deutschlands über England wegen der Nichtanerkennung des Tores von Frank Lampard als "beschämend" oder gar "beleidigend" empfunden hat?