Abschaffung der Hauptschule: Aus 3 mach 2

Auch mit dem Zwei-Säulen-Modell werden die alten Bildungsprobleme die gleichen bleiben

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Nach dem Atomausstieg hat die CDU nun eine weitere "heilige Kuh" geschlachtet. Sie schafft die Hauptschule ab und fusioniert sie mit der Realschule zur neuen Oberschule. Bis spätestens 2020 soll das Zwei-Säulen-Modell realisiert sein. Nur die bayerische Schwesterpartei sträubt sich. Noch! Und das aus gutem Grund. Erst jüngst hat die CSU der Hauptschule einen Neuanstrich verpasst und sie in "Mittelschule" umgetauft.

Mitte ohne Mitte

Das ist zwar ein Etikettenschwindel, weil die "Mittelschule" (so hieß vor fünfzig Jahren übrigens die Realschule) nichts anderes bietet als die Hauptschule zuvor. Schon an ihr war es möglich, den mittleren Bildungsabschluss zu erwerben und im Ganztagesbetrieb beschult zu werden. Doch die Christlich-Sozialen stört das nicht. Zumal die Umbenennung keiner höheren Eingebung folgt, sondern schlicht dem fehlenden Schülerpersonal geschuldet ist.

Um massenhaft Schulschließungen auf dem Land zu vermeiden, und die Dreigliedrigkeit irgendwie am Leben zu erhalten, ist man in München auf den glorreichen Gedanken verfallen, Schulen, die anders nicht zu halten wären, zu so genannten "Schulverbünden" zusammenzuschweißen, die sich dann mit dem noblen Titel "Mittelschule" schmücken dürfen.

Helfen wird das der Hauptschule nicht, zumal es außer Bayern nur noch ein Bundesland gibt, nämlich Hessen, das an ihr festhält. Alle anderen haben mehr oder minder auf das Zwei-Wege-Modell umgestellt. Auch in Bayern wird die Hauptschule aussterben. Die Frage ist nur, wie lange ihr Siechtum noch währen wird: drei, fünf oder sieben Jahre. Schon die nächsten Landtagswahlen, wenn die CSU gezwungen sein wird, mit den Grünen zu koalieren, könnten als "Brandbeschleuniger" wirken.

Umgekehrt proportional

Längst haben die Eltern ihren Willen auch in Bayern kundgetan. Mit Händen und Füßen wehren sie sich, ihre Kinder den Hauptschulen "freiwillig" zu überlassen. Von der "Restschule", zu der die Hauptschule verkommen ist, wollen sie nichts wissen. Zu schlecht sind ihr Ruf und Image. Wer irgendwie kann, meldet sein Kind am Gymnasium oder wenigstens an der Realschule an. Dadurch sind die Übertrittsquoten eines Jahrgangs auf über 70 Prozent hochgeschnellt – auch auf dem Land. Hinzu kommen noch all jene, die aus Scham, die Nachbarschaft könnte erfahren, dass das Kind auf die Hauptschule muss, die Flucht an irgendeine private Einrichtung mit wohlklingenderen Namen antreten.

Würde diese hohen Quoten aus einem neuem Lern- und Leistungswillen herrühren, wäre das nur zu begrüßen. Echte Bildung ist ein Gut, das man nicht hoch genug schätzen sollte. Doch dem ist bekanntlich nicht so. Die Schüler sind zwar viel lebhafter, selbstbewusster und fordernder geworden, auch neigen sie häufiger zur Selbstüberschätzung als früher. Aber dass sie in all den Jahren ehrgeiziger, lernwilliger und leistungsorientierter in der Schule geworden sind, kann man nicht beobachten. Das bestätigen zumindest unisono fast alle Dozenten und Lehrkräfte, gleich an welcher Bildungseinrichtung sie Dienst tun. Fast jeder antwortet auf entsprechende Nachfrage, dass das Anforderungs- und Leistungsniveau in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich abgesunken ist, während sich die Zahl der Absolventen mit höheren Zertifikaten zum Erstaunen aller gleichzeitig rapide erhöht hat.

Politisch gewollt

Eine gehörige Portion Schuld trägt wieder mal die Politik. Sie hat dieser Aushöhlung des Werts von Abschlüssen und Zertifikaten über all die Jahre tatenlos zugesehen. Sie hat die "Fluchtwelle" mit steter Senkung des Anforderungsniveaus auch noch bewusst unterstützt. Statt auf strengeren Qualifikationsstandards zu beharren, hat sie, vor allem auch, um sich Loyalitäten der Bürger in Form von Wählerstimmen zu erkaufen, diesem Elternwillen nachgegeben und die Hauptschulen durch die Erleichterung des Übertritts "abgestraft" und zu einer "No Go Area" verkommen lassen.

So hat auch die Politik in Bayern, wo angeblich noch Wert auf strenge Zensuren und ein hohes Bildungsniveau gelegt wird, die Übertrittsnormen für "höhere Schulen" Zug um Zug angehoben. Mittlerweile ist es Zehn-, Elf- und Zwölfjährigen gestattet, mit zwei "ausreichenden" Noten in den Kernfächern Deutsch und Mathematik, nach Ableistung eines Probeunterrichts und mit Willen der Eltern, Gymnasium oder Realschule zu besuchen.

Frust aus Überforderung

Jedem Laien dürfte klar sein, dass mit "ausreichenden" Leistungen in den Kernkompetenzen ein Abschluss an diesen Einrichtungen kaum zu schaffen ist. Die Hoffnung, dass sich das im Tandemlernen mit "besseren" Schülern im Laufe der Jahre geben wird, ist schon sehr mutig und kühn. Gewiss gibt es immer wieder Leistungsschübe und Spätentwickler. Auch ist das, was man in der Schule so lernen muss, für Schüler nicht immer so wahnsinnig interessant.

Trotzdem käme außerhalb des Schul- und Bildungssystems wohl niemand auf die Idee, Kinder oder Jugendliche ohne entsprechendes Talent und ausgiebigstes Training einen Marathon laufen, einen Salto vom Hochreck absolvieren, die Streif hinuntersausen oder vom Zehn-Meter-Turm springen zu lassen. Noch jedes Springpferd verweigert den Dienst, wenn es, ohne genügend Sprungkraft und ohne von seinem Trainer vorsichtig an diese Herausforderung herangeführt zu werden, ad-hoc über eine Zwei-Meter-Mauer springen soll.

Experten entscheiden

Übersteigt das Anspruchsniveau die Fähigkeiten der Schüler eklatant, dann erwachsen aus Überforderungen meist Frustrationen. Die Unlust am Lernen steigt, Disziplinlosigkeiten nehmen zu und die Schüler suchen sich andere Wege der sozialen Anerkennung. Darum muss ein gut funktionierendes Bildungssystem immer versuchen, jedem Kind einen Bildungsweg gemäß seinen Talenten, Veranlagungen und Neigungen zuzuweisen und ihn so gut wie möglich in seinen entsprechenden kognitiven Möglichkeiten und Fertigkeiten zu fördern.

Diese "Wahl" kann man freilich nicht dem Willen und Gutdünken der Eltern überlassen, die natürlich den höchsten Bildungsabschluss für ihr Kind suchen. Wer wollte das ihnen verübeln. Schließlich leistet sich der Staat lang und teuer ausgebildete und auch relativ gut bezahlte Experten, die dies trotz aller Mängel, die Gutachten mitunter haben, besser beurteilen können als Vater, Mutter oder Omi.

Hauptschüler bleiben

Klar dürfte auch sein, dass mit der Abschaffung der Hauptschule keines der aktuellen Probleme dieser wie auch aller anderer Schularten gelöst wird. Die "Haupt-" und "Problemschüler", wie man sie auch nennt, sind nach wie vor da, sie verschwinden ja nicht, nur weil es keine Hauptschule mehr gibt. Und ihre Defizite im Rechnen, Schreiben und Lesen, aber auch in den so genannten sozialen oder Sekundärtugenden, werden nicht behoben, wenn die Schule künftig Oberschule heißt und mit der Aufgabe überfrachtet wird, die Fehler der Sozial- und Integrationspolitik oder die Fragen der sozialen Ungleichheit zu lösen.

Im Gegenteil! Eher ist zu erwarten, dass das Bildungsniveau an der Oberschule sinken und die soziale Ungleichheit steigen wird. Der Drang aufs Gymnasium wird weiter zunehmen und sie zur "Haupt-Schule" der Nation mutieren lassen, während die jetzigen Realschüler "Restschüler" werden und von den Hauptschülern leistungsmäßig nach unten gezogen werden ( Adieu Realschule). Wer glaubt, dass die Oberschule die Lernmotivation und das Selbstvertrauen der Hauptschüler steigern wird, sich deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt dadurch auch gravierend verbessern werden, ist auf dem Holzweg. Der Effekt, den sich die CDU erwünscht, wird verpuffen.

Ein Beispiel veranschaulicht das. Früher hieß die Hauptschule bekanntlich Volksschule. Sie hieß so, weil das Gros der Bevölkerung dorthin ging. Als Migrantenkinder dazukamen und die Zahl bildungsferner Schüler stieg, wurden diese nicht etwa von den besseren Schülern mitgezogen oder gar integriert. Vielmehr trat genau der gegenteilige Affekt ein. Wer konnte, nahm Reißaus. Auf diese Weise wurde das Schul- und Lernklima nach und nach desavouiert. Die Erwartung, dass an Oberschulen funktioniert, was an der Volks- und späteren Hauptschule schon nicht funktioniert hat, ist reines Wunschdenken.

Werte entscheidend

Eine Verbesserung des Lernklimas funktioniert höchstens in Klassen, in denen ein für alle Schüler gleiches und auch jederzeit erreichbares Leistungs- Anspruchs- und Bildungsniveau herrscht, die Wertordnung klar und mehrheitlich von der Bereitschaft zum Lernen und zur Leistung bestimmt wird und in der vor allem derjenige soziale Anerkennung bekommt, der in dieser Rangordnung weit oben steht. Dann werden die paar Schwachen und wenig Lernwilligen von den Anstrengungs- und Leistungsbereiten auch mitgezogen.

Ist das hingegen nicht der Fall, gilt derjenige als cool und sozial anerkannt, der den Unterricht massiv stört, Lernunwillen zeigt und durch prolliges Gehabe und Disziplinlosigkeiten auffällt, dann werden auch die wenigen Leistungswilligen von denen nach unten gezogen. Zwei oder drei Problemschüler kann in aller Regel jede Klasse verkraften und integrieren, aber nicht acht, zehn oder zwölf.

Folglich käme es zuallererst auf eine "gesunde" und richtige Mischung an, auf die Größe der Klasse ebenso wie auf einen Rahmen, der für Lehrkräfte und Schüler überschaubar bleibt, wo möglichst jeder jeden kennt und das Klassenlehrerprinzip herrscht. Viele dieser Lernbedingungen erfüllten im Prinzip Hauptschulen, ganz zu schweigen von den diversen praktischen und Betreuungsangeboten, die den Schülern mittlerweile unterbreitet werden. Aber weil die Politik ihre Größe derart anschwellen, sie leistungsmäßig extrem ausdünnen ließ und sie zu sozialen Brennpunkten hat werden lassen, sind sie dermaßen in Verruf gekommen.

Jedem sein Zertifikat

Darum wird die so genannte "Oberschule" an der allgemeinen Bildungsmisere wenig ändern. Statt neuen Zusammenschlüssen bräuchte es mehr Differenzierung im Schulsystem. Denn auch in der neuen Schulform wird es R-Klassen und H-Klassen geben, wird es das Bildungsprekariat geben und werden die Schüler nach unterschiedlichen Anforderungsniveaus getrennt in A-, B- oder C-Kursen unterrichtet werden – nur unter einem Dach und an einer großen, aufgeblähten und zusehends unüberschaubaren Schule wie wir sie aus den USA kennen.

Um künftig die Vorgaben der OECD zu erfüllen und Abiturienten- und Studierquoten auf die gewünschten 50 Prozent zu steigern, schlage ich deshalb vor, jedem Kind bereits beim Eintritt in die Vor- oder spätestens in die Grundschule die Studiererlaubnis zuzusichern. Dann braucht sich endlich niemand mehr zu grämen. Die Bildungsoptimisten nicht, weil sie sich endlich ungestört dem Wachsen-Lassen des Kindes zuwenden können; die Bildungspessimisten nicht, weil sie sich keine krummen Vergleichs- und Leistungstests mehr ausdenken müssen; die Eltern und Kinder nicht, weil sie Geld für teuren Nachhilfeunterricht sparen und sich jeden Abend nicht wegen schlechter Noten in die Haare kriegen.

Dass darin weder Ironie noch Zynismus steckt, haben jüngst der bayerische Schulminister und seine Ministerialbürokraten selbst bewiesen. Weil die Abschlussnoten des G8 im Vergleich zu denen des G9 nicht den ministeriellen Erwartungen und öffentlichen Ankündigungen entsprach, hat man die Punkteschnitte per Dekret und zum Zorn aller korrigierender Lehrkräfte im Nachhinein nochmal angehoben und dadurch die Ergebnisse aufgehübscht.

Die Zahl der Studienabbrecher von derzeit knapp über einem Drittel wird davon sicherlich nicht kleiner. Selten hat jemand ihre eigenen Vorgaben, Verlautbarungen und Zielsetzungen besser autodekonstruiert als die bayerische Kultusbürokratie.