Gleichschaltung der Medien

Interessant an Grass' polemischen Gedicht war weniger der Inhalt als die medialen Nebengeräusche, die es nebenbei erzeugte

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Günter Grass hat ein Gedicht geschrieben. Über "das, was gesagt werden muss". Vor Ostern ist es zeitgleich in der "Süddeutschen", in "El País" und in "La Répubblicca" erschienen. Eine "rhythmisierte Prosa", eine, die heftig klagt und vor allem anklagt. Und zwar den Staat Israel, der den Weltfrieden gefährdet, weil er a) sein Atomwaffenarsenal jeglicher Kontrolle und behördlichen Introspektion entzieht und b) seit Monaten einen Angriffskrieg gegen den Iran plant.

Närrisch und tölpelhaft

Unmittelbar danach fegte ein Wutwelle ( Zombies) bislang unbekannten Ausmaßes übers Land. Landauf, landab regten sich Leitartikler, Blogger und Meinungsführer ( Medienrummel im Hause Grass) über die Worte auf, die der bald 85-Jährige "mit letzter Tinte", wie er schrieb, zu Papier gebracht hatte.

"Ekelhaft" nannte den Text der prominenteste Literaturkritiker des Landes, "närrisch" und "tölpelhaft" andere ( Grass und die zerstörte Streitkultur).

Henryk M. Broder, der Unvermeidliche, wollte darin gar "den ewigen Antisemiten" erkennen, wohingegen Kollegen, die sich selbst für besonders sensibel halten, ihn einfach "zum Teufel" wünschten.

Alte Rechnungen begleichen

Obzwar es mit dem Text unmittelbar nichts zu tun hatte, erinnerten fast alle an dessen jugendliche Mitgliedschaft in der Waffen-SS, die Grass jahrzehntelang der Öffentlichkeit verschwiegen hatte. Den einen oder anderen Schlaumeier oder Spaßvogel brachte das auf die glorreiche Idee, seinen Namen fortan in SS-Runen zu schreiben ( GraSS).

Ganz offensichtlich bot das Gedicht dem einen oder anderen eine willkommene Gelegenheit, alte und/oder noch offene Rechnungen mit jemanden zu begleichen, der sich selbst jahrzehntelang als "moralische Instanz" oder das "moralische Gewissen" der Nation inszeniert hatte. Zumindest drängte sich mir, der das alles nur aus der Ferne beobachten konnte, dieser Eindruck auf.

Keine Unterstützung

Dass der dichterische Klartext einen medialen Eklat zur Folge haben würde, dürfte Grass einkalkuliert haben. Dass der Furor dann aber so heftig und die Ablehnung nahezu einhellig war, dürfte selbst ihn überrascht haben. Nicht einmal jene, die ihm politisch nahe stehen, wollten sich auf seine Seite schlagen. Nur einige beherzte Linke, wie Johano Strasser, Peter Schneider oder Jakob Augstein, dem sich später auch dessen Schwester Franziska anschloss, wollten ihn verteidigen.

Das Thema: der Staat "Israel" und dessen Macht- und Selbstbehauptungswillen war offenbar zu heikel und auch viel zu brisant, als dass sich jemand zu Grass bekennen wollte. Zumal die Bundeskanzlerin noch vor Jahren Israel die uneingeschränkte Solidarität Deutschlands versichert und dabei den Schutz und "die Sicherheit des Landes" zur "Staatsräson" der Bundesrepublik erklärt hatte.

Keine Debatte

Zu der erhofften Debatte, die Grass anstoßen wollte, kam es nicht. Elegant wurde das Thema umschifft. Statt über Israel und die Siedlungspolitik, den uneingestandenen Atomwaffenbesitz und den nicht unterzeichneten Atomsperrvertrag sowie über die Planspiele für einen préemptive strike gegen den Iran und sein angebliches Atomwaffenprogramm wurde ausgiebig über die Person des Dichters und seine Sätze diskutiert.

Nicht nur jeder Satz, jedes auch noch so kleine Detail oder Stichwort im Text wurde penibel ziseliert, auf Anspielungen, mögliche Aus- und Unterlassungen untersucht oder nach geheimen, heimlichen oder uneingestandenen Botschaften oder Glaubensinhalten durchforstet.

Hatte "diese in mehreren Dimensionen so eindrucksvoll demokratisch gewordene Nation den Nazismus doch nicht hinter sich gelassen?", wie jemand, der sich mittlerweile für einen "Amerikaner" hält, geheimnisvoll vor sich hin raunte? War also die Vergangenheit so lebendig wie die Gegenwart? War "der Schoß, aus dem dies kroch, noch fruchtbar", wie Bert Brecht noch fabulierte?

Tiefer Graben

Ein völlig anderes Bild bot sich jenen, die die Foren oder Leserbriefspalten studierten. Da überwogen, wie Grass konstatieren durfte, die zustimmenden Beiträge. Statt ihn zu "verteufeln", lobte die breite Masse Grass für seinen Mut, ein Thema zur Sprache gebracht zu haben, wozu sich die Verantwortlichen in Politik, Medien und Kultur aus persönlicher Feigheit oder nachvollziehbaren Gründen lieber ausweichend oder gar nicht äußern wollten.

Erneut tat sich, wie an den jüngsten Debatten über Sarrazin oder Wulff bereits sichtbar wurde, ein tiefer Graben auf, zwischen dem, was medial zu lesen, zu hören und zu sehen ist (veröffentlichte Meinung) und dem, was die Leute draußen (schweigende Mehrheit) an den Stamm-, Küchen- oder Wohnzimmertischen so denken oder sagen (öffentliche Meinung).

Kein Wunder, dass Grass in Interviews, die er kurz darauf den Tagesthemen, Aspekte und der SZ gab, fehlende Gegenstimmen in den Medien monieren konnte und gar von einer "Gleichschaltung der Medien" sprechen wollte.

Politisch vermint

Nun ist dieser Begriff (wie der des "Gutmenschen", der "Autobahn" oder der "politischen Korrektheit" auch) hierzulande mehr oder minder politisch vermint. Er stammt, wie Tage später Heribert Prantl in der Osterausgabe der SZ wissen wollte, "aus dunkelster deutscher Zeit". Wer immer sie in den Mund nimmt oder sich leichtfertig an ihnen vergreift, kann schnell in den Geruch kommen, irgendwie ein verkappter "Nazifreund" zu sein.

Übereifrige wie "unser Amerikaner" wollten da nicht nur den "alten Flakhelfer", sondern obendrein noch eine "für den Nazismus typische Mentalität" erkennen, eine, die "intellektuell schmuddelig", das "Trauma von 1945" immer noch nicht überwunden hat und die uneingestandene "Schuld" von damals "auf die Nachgeborenen" abwälzen möchte.

So abstrus diese Gedanken sind (offenbar gibt es da auch "Traumata" mit dem "Trauma"), so abwegig bleibt im Grunde der Vorwurf einer "gleichgeschalteten Presse". Was in totalitären Staaten "Staatsräson" ist, nämlich Meinungen zu diktieren, ist in liberalen Demokratien eher unmöglich. Gerade sie lebt vom lebendigen Diskurs und vom Pluralismus der Meinungen, sie hat sich den Wettstreit und den Sieg des besseren Arguments auf die Fahnen geschrieben.

Das ist selbstverständlich auch Grass bekannt. Wie kommt er aber dann auf diesen Gedanken? Sollte da doch jemand sein, der an den Knöpfen und Schaltern der Macht dreht und sie nach Gutdünken auf rot, gelb oder grün stellen kann?

Hätte Grass Niklas Luhmann gelesen (was er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht hat), dann hätte er diesen Begriff wohl auch tunlichst vermieden. In "Die Realität der Massenmedien" von 1996 hatte der Soziologe die Vorstellung von einem "geheimen Drahtzieher", der "im Hintergrund" die Fäden zieht, noch als Teil eines "Schauerromans des 18. Jahrhunderts" bezeichnet und philosophisch "als transzendentale Illusion" abgetan.

Beobachterproblem

Schon wegen der Vielzahl der Verbreitungsmedien und ihrer Technologie und der unterschiedlichen Interessenslagen der Akteure sei in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften eine "zentrale Koordinierung von Sendebereitschaft und Einschaltinteresse", die Voraussetzung für eine "Gleichschaltung" wäre, nicht möglich. Übertragungsmedien bildeten die Realität gar nicht ab. Daher müsste die Frage auch anders gestellt werden: Wie Medien durch die Form ihrer Darstellung die Realität "verzerrten".

Wer also mehr über "die Realität der Massenmedien" erfahren möchte, müsste folglich zuallererst beobachten, wie Medien Realität wahrnehmen und sie beobachten. Er müsste folglich den Standpunkt eines "Beobachters zweiter Ordnung" einnehmen und den Journalisten und Redakteuren über die Schulter schauen, wie sie die Realität konstruierten.

Und da liefern die "medialen Aufreger" der jüngsten Zeit, Sarrazin, Wulff, Kracht und Grass aber auch Libyen, Syrien oder der Fall Julija Timoschenko doch ein eher bedenkliches Bild vom Zustand der schreibenden und übertragenden Presse. Von tiefgehenden Recherchen, abwägenden Urteilen und einer distanzierten Berichterstattung, die dem Leser eine eigene Meinungsbildung gestatten, ist nur noch wenig bis nichts zu beobachten.

Stattdessen werden Nachrichten ständig mit Emotionen, Moralien und Gesinnungen angereichert, Meinungen und Vorurteile, die mit gespielter oder echter moralischer Entrüstung, in rechthaberischen Posen oder besserwisserischen Attituden, die vorgeben, im Besitz der "wahreren Werte" zu sein, medial aufgebauscht, dramatisiert und skandalisiert werden.

Warum das so ist, vorgefasste Meinungen eher die Regel als die Ausnahme sind, hat natürlich seine Gründe. Sie können hier allerdings nur angedeutet werden.

Nachrichtenware

Fern davon, die Vergangenheit verklären zu wollen, bin ich doch der Ansicht, dass dies vor einigen Jahrzehnten noch etwas anders war. Zwar war die Medienvielfalt lange nicht so groß wie heute. Es gab etliche "Meinungsmonopole". Und auch die politische Landschaft war zwischen links und rechts, rot und schwarz, noch ziemlich geordnet und streng aufgeteilt. "FAZ" und "Die Welt" unterstützten die Konservativen, "SZ", "FR" und "taz" die Fortschrittlichen - um nur die wichtigsten "Meinungsleuchttürme" zu nennen.

Gleichwohl gab es aber noch Verleger, denen der Journalismus und das Nachrichtengeschäft noch eine Herzensangelegenheit war. Mittlerweile sind diese aber abgetreten und durch Unternehmensgruppen, Gesellschafter und Medienhäuser ersetzt worden, denen es nicht mehr um die Nachricht als solche geht, sondern allein noch um Auflagen, Klickraten und Einschaltquoten.

Gedruckt, gesendet und übertragen wird vor allem das, was Leser, Zuseher und Zuhörer vor die Mattscheibe zwingt, sie zum Klicken oder zum Kaufen des Blattes oder Magazins animiert. Und das ist bekanntlich all das, was möglichst laut, grell und schrill daherkommt und sich marktschreierisch unter die Leute bringen lässt: Abnormales und Opferhaftes, Sozialkitschiges und Wehrhaftes, Provokatives und Tabuhaftes, wozu in der hiesigen Gesellschaft vor allem das scheinbar Rassistische oder Antisemitische, das Minderheiten Diskriminierende oder Menschenrechtsverletzende gehören.

Missstandsproduzenten

Die große Distanz, der einmal die Boulevard- von den Qualitätsmedien getrennt, die billige und leicht verdauliche Nachricht von der seriös und von langer Hand aufbereiteten unterschieden hat, ist mehr und weniger eingeebnet worden. Längst beschränken sich diese Medien nicht mehr auf ihre angestammte Rolle, den freien Diskus zu fördern, den Regierenden und Mächtigen auf die Finger zu schauen oder mögliche Missstände aufzudecken, sondern prangern jene an, die sie vorher selbst in ihrem Medium produziert haben.

Die "Causa Wulff" bietet dafür ein exzellentes Lehrstück. Es wird die künftige Aufgabe von Magisterarbeiten oder gar Promotionen sein, das grandiose Zusammenspiel, das "Bild", "Spiegel" und "FAZ" da gelungen ist, um den höchsten Repräsentanten des Landes zu Fall zu bringen, nachzeichnet und aufschlüsselt. Ähnliches gilt auch für die Causa Sarrazin. Auch hier haben die Medien, in diesem Fall, der "Spiegel", jenen Text selbst per Vorabdruck publiziert, den sie hinterher eigenhändig skandalisiert haben.

Im Gleichklang

Im Fall Grass ist allem Anschein nach Vergleichbares passiert. Auch hier hat eine Erstfassung des Gedichts, die ursprünglich nur "Der Zeit" vorgelegen hat, aber von ihr nicht abgedruckt werden wollte, auf wunderliche Weise den Weg zur Springer-Presse gefunden, die dann Gegenstand der Kritik geworden ist.

Überraschen sollte solche "dunkle Kanäle" jedoch niemanden. Auch im Mediengeschäft gibt es (wie in der Wissenschaft, der Wirtschaft oder der Kultur auch) gut funktionierende soziale Netzwerke, die sich gegenseitig stützen und unterstützen und sich Themen und Posten zuschanzen. Diese Netzwerke tauchen allerdings auf keiner Facebook-Seite auf und sind auch in keinem Lehrbuch der Journalistik nachzulesen, sondern operieren informell, abseits der bekannten öffentlichen Zirkel und Kanäle, in den Stammkneipen und Salons von Berlin, Hamburg, Frankfurt und München.

Starker Anpassungsdruck

Vielleicht hat Grass daran auch gedacht, als er im Interview mit Heribert Prantl den Begriff der "Gleichschaltung" relativierte und stattdessen lieber vom "Hordenjournalismus" sprechen wollte. Hier werden die "Bandbreite der Meinungen" und die "kontroversen Diskussion" durch einen quasi "vorauseilenden Gehorsam" eingeschränkt.

Schon seit Jahren ist bekanntlich auch die schreibende oder übertragende Zunft mit prekären Arbeitsverhältnissen konfrontiert. Wo früher die Freiheit des festangestellten Redakteurberufs den Schreiber einigermaßen unabhängig von den politischen oder wirtschaftlichen Vorlieben, Vorgaben oder Wechseln in den Chefetagen der Verlagshäuser machte, regiert mittlerweile die Angst, den Arbeitsplatz wieder zu verlieren.

Viele ziehen daher die Anpassung an das, was politisch genehm, erwünscht und vor allem auch moralisch korrekt daherkommt lieber vor. Zu tatsächlich kontroversen Diskussionen, wie sie die Demokratie braucht, um lebendig zu sein, kommt es daher eher selten. Besonders dann, wenn dieser Anpassungsdruck auch noch von einem gruppenbezogenen Verhaltens- und Wertungskodex‘ bestimmt wird, der bestimmte Reaktionen, Klartexte oder Schicklichkeiten untersagt.

Allein anhand dieser Geschichten ließe sich erneut jene Beobachtung untermauern, die ich selbst noch vor zwanzig Jahre mit Blick auf die Geschehnisse am Golf oder in Rumänien und unter dem Eindruck der damals gängigen postmodernen Medientheorien noch kaum für möglich gehalten habe.

"In einem selbstbezüglichen Prozess", schrieb ich damals in "Medien und Öffentlichkeit", "schaffen Medien eine emergente Wirklichkeit, die informiert und kritisiert, die bestätigt und dementiert, die Empfänger erzeugt und bezeugen lässt, und damit weitere Informationen prozessiert, über die wieder berichtet und kommuniziert werden kann.

Den absoluten Höhepunkt erreicht dieses simulierende und gegenseitig sich stimulierende Spiel des Darstellens, Herstellens und Zustellens aber, wenn Medien (immer unter dem Signum der Freiheit, des Rechts auf Meinungs- und Informationsfreiheit) neben den Rollen des Anwalts und Chefanklägers auch noch die vakante Stelle des Richters besetzen und Urteile fällen.

Wenn das passiert, Medien die Ausdifferenzierung öffentlicher Gewalt in die eigenständigen Bereiche von Legislative, Judikative und Exekutive kassieren und eine alleinige repräsentative Gewalt, eine neue magisch-technische Souveränität erzeugen, die Gesetze erlässt, Recht spricht und augenblicklich exekutiert, hätten die Medien alle möglichen Außenposten, Gegenmächte und Gegendiskurse, besetzt. Ein Jenseits von Medien wäre dann allerdings nicht mehr möglich."