"Ich habe dieses Lotterleben satt. Ihr werdet morgen von mir hören"

Polizei liefert neue Erkenntnisse zum gestrigen Amoklauf in Baden-Württemberg

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Der baden-württembergische Innenminister Heribert Rech zitierte heute mittag auf einer Pressekonferenz den Ausschnitt aus einem "Internet-Chat" zwischen dem Amokläufer und einem gleichaltrigen Jungen aus Bayern. Darin heißt es u.a.: "Scheiße, Bernd, es reicht mir. Ich habe mein Lotterleben satt. Alle lachen mich aus.. Niemand erkennt mein Potential..Ich habe Waffen hier..Ich werde morgen an meine Schule gehen und gepflegt grillen..Ihr werdet morgen von mir hören." Der Chat soll laut Polizei in der Nacht zwischen Dienstag und Mittwoch stattgefunden haben, gegen 2 Uhr 45. Laut Rech hatte sich der Vater des anderen Jungen gestern mit einem entsprechenden Hinweis gemeldet.

Update: Mittlerweile häufen sich Fragen über Echtheit des Screenshots, der von der Polizei als Dokument bei der Pressekonferenz präsentiert wurde. Skeptiker bezweifeln, dass der von der Polizei präsentierte Beitrag in einem Chat geschrieben wurde. Es sei möglich, dass er in einem Imageboard "kreativ nachbearbeitet wurde". Auch der Adressat "Bernd" weise darauf hin. Der Name werde als deutsche Entsprechung von "Anonymous" verwendet. Mehr dazu folgt in einem anderen Artikel.Auch der Betreiber von Krautchan.net, wo der Chat angeblich stattfand, dementiert:

"Hier wurde kein Amoklauf angekündigt, es gibt hier nur Leute, die mit Photoshop umgehen können.

Scheinbar ist recherchieren heutzutage uncool. Schlimm genug, bei Wikipedia abzuschreiben, aber hier? Grundgütiger."

Tatsächlich hatte sich der Amokläufer mit sehr viel Munition versorgt, 220 Schuss laut Angaben der baden-württembergischen Polizei, über 100 davon gab er ab, tötete 15 Menschen und verletzte mehrere schwer. Der Vater hatte Munition, 4.600 Patronen verschiedenen Kalibers, in zwei Waffenschränken zuhause gelagert. Möglicherweise, so Innenminister Rech, kannte der Sohn die Zahlenkombination. Als weiteren Hintergrund zur Tat steuerte die Polizei bei, dass der Täter seit 2008 wegen Depressionen in psychiatrischer Behandlung war; in diesem Zusammenhang wurde auf den niedergeschossenen Mann aus der psychiatrischen Klinik hingewiesen.

Als bemerkenswertes Element der Pressekonferenz ist aber auch festzuhalten, dass die Polizei beim Thema "Prävention" nicht auf Computerspiele abhob, sondern auf eine "größere Sensibilität", die sich unter Gleichaltrigen und Freunden entwickeln müsse, wenn es um Äußerungen in einem Chatroom geht. Der Vertreter der Polizei ermunterte dazu, sich hier den Eltern und auch der Polizei anzuvertrauen. Tim K. hatte seinen Worten im Chatroom laut Pressekonferenz ein "Ich trolle nur" hinzugefügt, der Chatpartner mit "lol" geantwortet.

Was gestern und heute früh (siehe weiter unten) als Diskussion angewärmt wurde - "Computerspiele als Hobby des Amokläufers" - wurde bei der Pressekonferenz vom Leiter der baden-württembergischen Staatsanwaltschaft moderat und beinahe beiläufig behandelt. Die erste Auswertung des beschlagnahmten Computers habe gezeigt, dass sich auf dem Rechner Pornobilder befinden, allerdings nicht in einem außergewöhnlichen Umfang und in einer Art, die keine außergewöhnliche Bewertung impliziert. Darüber hinaus habe sich der Täter "auch mit Gewaltspielen beschäftigt, wie es viele Jugendliche in seinem Alter tun".

"Viel Zeit mit Killerspielen am Computer verbracht"

Vor der Pressekonferenz über Hintergründe des gestrigen Amoklaufes in Winnenden, belieferten Funktionäre und Politiker die Presse bereits mit den für solche Fälle üblichen Hintergrundannahmen, die auf einem Ausschnitt der Polizeiermittlungen aufbauen, und die sich in politisch attraktive Handlungen übersetzen lassen: gesetzliche Maßnahmen gegen die Verbreitung von "Killer-Computerspielen".

Der Polizeisprecher Klaus Hinderer hatte heute morgen gegenüber der dpa bestätigt, was viele Kommentatoren in den Diskussionsforen gestern schon frühzeitig als Verarbeitungsthema des unbegreiflichen Traumas prognostizierten - den Zusammenhang zwischen der Tat und Computerspielen: Laut Hinderer "habe der Amokläufer von Winnenden in den vergangenen Monaten viel Zeit mit Killerspielen am Computer verbracht". Der Polizeisprecher wies ausdrücklich darauf hin, dass bei dem Täter "unter anderem das Spiel Counter-Strike gefunden wurde". Die Daten seines Computers würden derzeit ausgewertet.

Den Anfang für die neue Runde der Diskussion über "Gewaltcomputerspiele und Amoklauf" machte der Präsident der Deutschen Stiftung für Verbrechensbekämpfung Hans-Dieter Schwind. In einem heute erschienenen Gespräch mit der Neuen Osnabrücker Zeitung forderte Schwind ein "totales Verbot von Computer-Gewaltspielen" - und eine weitere Verschärfung des Waffenrechts - ein Vorschlag, der allerdings nicht bei allen Politikern auf Verständnis stößt. So warnt beispielsweise Wolfgang Bosbach von der CDU vor einer einseitigen Debatte über das Waffenrecht. Die Griffnähe von legalen Waffen, Wut, Frust, Mobbing und mangelnde Betreuung gehören zwar ebenfalls zum Schwindschen Motiv- und Hintergrundkatalog für die Tat, aber ausdrücklich erwähnt Schwind auch das Motiv der "Videovorlagen":

"Dass der 17-Jährige auf der Flucht noch weiter um sich geschossen hat, ist ein Verhalten, das Jugendliche auch in Spielen wie Counter-Strike oder Crysis lernen können."

Auch der bayerische Innenminister machte heute morgen in einem Beitrag für die Sendung "Radiowelt" des Bayerischen Rundfunks noch einmal deutlich, dass Killerspiele die Gefahr beinhalten würden, "dass jemand meint, das nachzuspielen". Ob das tatsächlich eine Rolle bei der gestrigen Tat gespielt habe, wisse er zwar nicht, "aber ganz generell sind Killerspiele auf dem Markt, die unerträglich sind, die bei jungen Menschen Hemmschwellen herabsetzen".

In München wurde indessen der Starkbieranstich, der für heute Abend angesetzt war, wegen des "verheerenden Amoklaufs" verschoben.