45 Stunden Arbeit in der Woche und mehr

Der Wirtschaftsaufschwung bringt für die Arbeitnehmer unangenehme Forderungen mit sich

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Die Deutschen sind oder sollen geschockt sein, sagt die Bild-Zeitung. Jetzt will die Regierung nicht nur weiterhin, dass bis 67 Jahre gearbeitet wird, um Rente zu beziehen, wir armen Deutschen sollen womöglich auch noch 45 Wochenstunden arbeiten, nachdem Gewerkschaften schon einmal die 30-Stunden-Woche ins Visier genommen haben.

Oje. Zwar ist die 40-, 38- oder 35-Stunden-Woche für viele sowieso bestenfalls ein Orientierungspunkt und keine Wirklichkeit, aber jetzt sucht Bild mal wieder zu mobilisieren, nachdem man in der Redaktion wohl mal einen Blick auf Frankreich geworfen hat: "Für viele eine wahres Horror-Szenario. Unsere Freizeit wird immer kürzer! Und die Politik nimmt uns jede Illusion."

Hintergrund ist die Aussage eines einzigen Menschen. Der Welt verriet Ulrich Blum, Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), dass mit dem Lotterleben und der vielen Freizeit bald Schluss sein werde: "Schon heute wird in einzelnen Branchen extrem viel gearbeitet. In Zukunft wird die 43- bis 45-Stunden-Woche aber für immer mehr zur Normalität werden." Auch 50 Stunden könnten kommen. Blum meint, dass mit der Ausdehnung der Rente viele Menschen, die schwere körperliche Arbeit verrichten, sich umschulen müssten, um bis 67 Jahre oder länger arbeiten zu können.

Weil aber die Fortbildung vermutlich nicht mehr staatlich finanziert werden könne, müssten die Arbeitnehmer Arbeitszeitkonten aufbauen, also mehr arbeiten, um schwierige Zeiten überbrücken zu können, wie das während der Wirtschaftskrise auch mit der Kurzarbeit gemacht wurde, die freilich zu Kosten des Staates gegangen ist. Blum meint allerdings, dass man die Arbeitszeit durch Flexibilisierung nicht zu weit nach oben steigen lassen sollte: "50 Stunden oder gar mehr dürfen nicht zum Regelfall werden, weil ab einem zu hohen Pensum die Leistungsfähigkeit zurückgeht."

Das ist nett gemeint, für viele Selbständige ist eine 50-Stunden-Woche allerdings eher eine Utopie, für viele Arbeitnehmer wohl jetzt auch schon. 10 Prozent, so das Statistische Bundesamt, arbeiten auch jetzt schon länger als 48 Stunden, die im Arbeitszeitgesetz festgelegte Obergrenze, 4,3 Prozent länger als 60 Stunden. Die pure Zeit dürfte allerdings sowieo nicht das primäre Kriterium sein, sondern eher schon die Art der Arbeit, der Grad der Selbständigkeit und/oder der Verdienst.

Darum aber geht es Bild weniger. Hier wird Empörung geschürt, allerdings könnten Arbeitnehmer auch schon mal vorbauen, wenn der prognostizierte Fachkräftemangel wirklich durchschlägt. Zitiert werden Experten: "Auf jeden Fall sollten Arbeitgeber alle Freiräume nutzen, um ihre Belegschaften zu längeren Arbeitszeiten zu motivieren", erklärt Prof. Thomas Straubhaar, Präsident Institut HWWI gegenüber BILD.de. "Das kann durch höhere Überzeit-Zuschläge geschehen, durch attraktive Jahreszeitkonto-Regeln mit Kompensationsregeln oder durch Gewährung von Weiterqualifzierungsmaßnahmen oder Sabbaticals in künftigen Perioden." Die Arbeitgeber könnten allerdings auch weiterhin darauf spekulieren, dass die Menschen lieber mehr für weniger Geld arbeiten, als nichts zu tun und Hartz IV zu beziehen. Der Wirtschaftsverband UMW die 45-Stunden-Woche fordert als "Normalfall": "Wir brauchen längere Arbeitszeiten, damit wegen des Fachkräftemangels nicht noch mehr Aufträge verloren gehen."

Und während der bayerische Ministerpräsident Seehofer weiter auf der Sarrazin-Welle zu schwimmen versucht und die deutschen Arbeitslosen gegen (weniger werdende) hochqualifizierte Einwanderungswillige auszuspielen versucht, spielt sich die Auseinandersetzung längst auf einer anderen Ebene ab: Entweder es wird mehr und länger gearbeitet oder es muss Zuwanderung geben. Fast 39.000 haben auf Bild abgestimmt. Davon sagten 73 Prozent, dass eine 45-Stunden-Woche verhindert werden müsse. Mal schauen, was die Telepolis-Leser in unserer Umfrage meinen?