Annus terribilis?

Kirchenjahr 2010: Schafe verlassen die falschen Hirten, und die interessiert das scheinbar gar nicht

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Die katholische Kirche hat 2010 erwartungsgemäß nichts aus der Krise gelernt. Wie einer ihrer papstgetreuen Vordenker, der kölnische Erzbischof Kardinal Joachim Meisner, am Silvesterabend im Hohen Dom am Rhein artikulierte, war 2010 für sein Gewerbe zwar ein Jahr des Schreckens ("annus terribilis"). Vermutlich meinte er damit die rasant steigende Zahl der Austritte, die gerade dabei ist, auf eine neue Rekordhöhe zu klettern. Selbstzufrieden plauderte der Kirchenfürst in einem Atemzug aber auch von einem "Jahr der Gnade".

Das kann sich nicht auf die Opfer der tausend und abertausend sexuellen Übergriffe beziehen, denn die geschändeten Kinder und Jugendlichen beiderlei Geschlechts dürften unter Gnade etwas anderes verstehen als zeremonielle Scheinheiligkeit. Ein anderer Wortführer, Kardinal Karl Lehmann (Mainz), Kollege und Mitbruder des Kölner Oberhirten, wünschte sich zum Jahreswechsel in seiner Hochburg eine Abkehr von der "gebetsmühlenartigen Wiederholung der Schuld".

Wie der Kölner Stadt-Anzeiger in seiner jüngsten Magazinausgabe (22./23. Januar 2011) zeigt, liegen die Austrittszahlen beider Großkirchen für 2010 um 80 Prozent über denen des Vorjahres. Auffällig:

"Es treten nicht mehr nur Männer über 40 mit gutem Einkommen und guter Bildung aus, sondern auch scharenweise Frauen und sogar ganze Familien."

"Die Kirche", so wird der Freiburger Religionssoziologe Michael N. Ebertz zitiert, "ist durch den Missbrauchsskandal unter ein allgemein gesellschaftlich akzeptiertes Zivilisationsniveau gefallen. Damit ist sie nicht nur hinter ihren eigenen Anspruch zurück gefallen, sondern hat sich außerhalb des gesellschaftlich akzeptierten moralischen Konsenses gestellt." Ebertz attestiert vielen Gläubigen aber auch eine Art Kundenmentalität:

"Man weiß nie, wofür man den Service der Kirche vielleicht nochmal braucht."

Dabei ist der Kirchenaustritt in Deutschland von Gebühren und gern auch von Schikane begleitet. So gibt es sogar ihn, den misslungenen Austritt: Manch einer, der sich längst von der lästigen Steuer befreit glaubte, erhält nach einem Umzug unerwartet Post und wird nach seiner Austrittsurkunde gefragt. Kann er den Beleg dann aus irgend einem Grund nicht vorlegen, so ist die Kirche berechtigt, die Kirchensteuer nachzufordern - in Einzelfällen bis zu sechs Jahre rückwirkend.

Von den deutschen Bischöfen, so Ebertz, werde der Kirchenaustritt als Schisma definiert, eine Rechtskonstruktion, die man so nur in Deutschland finde. "Das Motiv des Austretenden interessiert [..] überhaupt nicht."