Brot und Spiele

Lässt sich das Volk ablenken? Bundesregierung hofft in aller Eile während der WM die Verlängerung der AKW-Laufzeiten durchzusetzen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

So ein internationaler Song-Wettbewerb – pardon: -contest – ist doch was Feines: Man veranstaltet eine Riesenparty und das besonders Schöne: Gleich im Anschluss gibt es eine Fußballweltmeisterschaft, sodass die Party fast nahtlos weitergehen kann. Da lässt sich der öde, meist prekäre Alltag mal für ein paar Wochen vergessen.

Irgendwie scheint sich das auch die Bundesregierung gedacht zu haben. Da heißt es immer Angela Merkel würde nur alles aussitzen, hätte gar keine rechte Lust zum richtigen Regieren. Dabei hat sie doch ihr Handwerk bei einem Meister seines Faches gelernt, bei Helmut Kohl, der jahrelang den arroganten Intellektuellen vorgegaukelt hat, er sei "eine Zwei-Zentner-Null", um dann so oft wie kein anderer vor ihm wiedergewählt zu werden.

Merkel hat sich also ganz offensichtlich gedacht, das Volk ist im Juni mit seiner WM beschäftigt, da ist doch die beste Gelegenheit, ein paar unpopuläre Maßnahmen unter Dach und Fach zu bringen. Vor der NRW-Wahl hatte man zum Beispiel genau wie letztes Jahr vor der Bundestagswahl das Thema AKW-Laufzeiten immer schön klein gehalten. Zwar wusste jeder, der es wissen wollte, was die Tigerenten im Schilde führen, aber bloß nicht drüber reden.

Nun heißt es, das für den Herbst angekündigte Energiekonzept soll noch vor der Sommerpause über die Bühne gebracht werden und damit auch die Verlängerung der AKW-Laufzeiten. Darauf haben sich offenbar, wie unter anderem das Handelsblatt meldet, am heutigen Freitag die Spitzen von Union und FDP geeinigt.

Das Demokratieverständnis, das sich dabei offenbart, ist atemberaubend: Industriepolitische Entscheidungen aller erster Güte, bei denen es um Festlegungen für viele Jahrzehnte geht, werden mal eben klammheimlich und in aller Schnelle getroffen, und zwar vorzugsweise nicht in einer offenen parlamentarischen Debatte, sondern in Mauschelrunden mit den Vertretern der großen Energiekonzerne.

Ob allerdings die Rechnung der Kanzlerin und ihrer Freunde aufgeht, ist offen. Zum einen ist höchst umstritten, ob sie am Bundesrat vorbeikommen, in dem sie gerade ihre Mehrheit verloren haben (siehe Bundesländer sind gefragt). Zum anderen hat die Anti-AKW-Bewegung in den letzten Monaten wiederholt gezeigt, dass sie quicklebendig ist. So demonstrierten auch heute über 100 AKW-Gegner vor dem Kanzleramt, wo sich einige CDU-Ministerpräsidenten mit Merkel und anderen Kabinettsmitgliedern auf das Vorgehen verständigt hatten.

Zuletzt hatten Ende April fast 150.000 Menschen mit zwei Großdemonstrationen gegen die schwarz-gelben Atompläne demonstriert. An diesem Wochenende wird es im niedersächsischen Wendland weitergehen. Dort wird an diesem Wochenende an den 30. Jahrestag der Räumung des Gorlebener Hüttendorfes erinnert. Die Aktionen stehen allerdings ganz im Zeichen der aktuellen Atompolitik.