Horst Köhler und das Weltethos

Das ehemalige Staatsoberhaupt soll 2013 die Präsidentschaft der Stiftung Weltethos übernehmen und könnte eine wichtige Stimme wider die Raubtiermoral auf dem Globus werden. Ein Kommentar

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Noch im 20. Jahrhundert haben viele Menschen geglaubt, Europa könne einen bedeutsamen Beitrag zu einer gerechteren und friedlicheren Welt leisten. Die Europa-Idee stand unter dem Verdacht, Lernprozesse aus zwei Weltkriegen lebendig zu halten und visionäre Alternativen zu der von einem militärisch-industriellen Komplex diktierten Politik der hochgerüsteten Kriegssupermacht USA zu eröffnen. Aufklärung, Humanismus, bürgerliche Revolution, Liberalismus, demokratischer Sozialismus und auch ein von seiner gewalttätigen Geschichte geläutertes Christentum, aus all diesen Traditionen und Bewegungen erhoffte man sich Impulse, die Gutes einbringen könnten bei einer Verwirklichung der universalen und unteilbaren Menschenrechte auf dem Globus.

Das neo-"liberalistische" Europa

Das Europa des "Neoliberalismus", an dessen Konstruktion und Militarisierung die Wirtschaftsmacht Deutschland maßgeblich mitgewirkt hat, ist von ganz anderer Art. Es schämte sich nicht einmal, in seinem Verfassungsentwurf - und dann ersatzweise im "Vertrag von Lissabon" - eine Pflicht der Mitgliedsstaaten zur Aufrüstung festzuschreiben. Dieses Europa hat man konstruiert als ein Zentrum des Turbokapitalismus, dessen Religion der Markt der Gewinner ist und das sich an seinen Außengrenzen ohne Rücksicht auf Verluste die Verlierer vom Hals hält. Zur Verschleierung der aggressiven Europa-Architektur dient ein Überbau, in dem auch von menschlichen, geistigen, kulturellen, sozialen oder zivilisatorischen Werten die Rede ist. Derweil geht es einzig um eine harte Substanz, deren Besitzer seit der Erfindung von reinem Buchungsgeld ihren Reichtum bis ins Unendliche vermehren können und trotz einer Milliarde hungernder Menschen u.a. auch mit Nahrungsmitteln spekulieren.

In unseren Tagen sehen wir nun ungeschminkt, was nicht anders zu erwarten war: Das als Krieg gegen die Armen der Erde angelegte Europa erweist sich auch nach innen als Raubtier-Arena. Den Politikern der "christ"-konservativen, "liberalen", "sozialdemokratischen" und "ökologischen" Parteien fällt nichts anderes ein, als die Geschäftsgrundlagen der Reichtumsvermehrung einer kleinen Minderheit auf Kosten der Mehrheit der Europäer abzusichern. Die Starken, darunter federführend die deutsche Nation, erheben ihren Ellenbogen gegen die Schwachen. Wer innerhalb der europäischen Zweckgemeinschaft den eigenen Wirtschaftserfolg stört, soll fertig gemacht werden. Das hat Auswirkungen auf die Menschen in den betroffenen Ländern. Nationalismus, Rassismus und rechtsextremistische Gewalt schwellen an. Das kapitalistische Europa zeigt jetzt auch innerhalb seiner Grenzen ein ganz hässliches Gesicht. Es bringt dunkle Früchte hervor, die den angeblichen "Werten" Europas den Garaus machen.

Dass die – für all dies verantwortliche – neo-"liberale" Politikerkaste gewaltfreie Protestbewegungen mit Repressionen und Polizeiknüppeln beantwortet, macht allen klar, wo ihre "Werte" liegen. Die Herrschenden haben einzig und allein Angst vor einem gewaltfreien Widerstand, der sich aus antidepressiven Energien und politischem Sinn für das Schöne speist. Dass sich – auch hierzulande – immer mehr junge Weltbürgerinnen und Weltbürger in ihrer geistreichen Widerständigkeit nicht beirren lassen, ist ein echtes Hoffnungszeichen.

Horst Köhlers "Berliner Rede" von 2007

Zu den von Europa ausgehenden Initiativen, die der neo-"liberalistischen" Weltunordnung die Vision einer anderen Globalisierung entgegenstellen, gehört die bürgerlich geprägte Stiftung Weltethos. Diese hat auf die Krise der Marktreligion 2009 u.a. mit dem Manifest Globales Wirtschaftsethos reagiert. Dass ein ideales, von gebildeten Eliten vorgetragenes Weltethos nur als Begleitmusik zu breiten Bewegungen von unten zu Veränderungen der herrschenden Verhältnisse beitragen kann, braucht wohl nicht eigens erläutert werden. Aber immerhin, das, was Wertkonservative noch immer als die "wahren Werte Europas" betrachten, wird durch diese Initiative in Erinnerung gerufen.

Neuer Präsident der Stiftung Weltethos soll als Nachfolger von Hans Küng 2013 der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler werden. Ist er der richtige Mensch für dieses Amt? Bei friedensbewegten Sympathisanten der "Weltethos"- Initiative gibt es da Vorbehalte. Vor zwei Jahren gab es für mich selbst Anlass, einen unfreundlichen Telepolis-Kommentar zu Köhlers umstrittenem Afghanistan-Interview zu verfassen ( Soldatensärge und deutsche Interessen). An dieser Stelle möchte ich zunächst lieber an die Berliner Rede des damaligen Staatsoberhauptes aus dem Jahr 2007 erinnern. Diese Rede, die seinerzeit gar nicht nach dem Gusto der neo-"liberalen" Bundeskanzlerin sein konnte, ist es wert, wieder gelesen zu werden. Sie verweist in einer für bürgerliche Konventionen durchaus ungewöhnlichen Tonart auf die Täterseite Europas hin:

"Noch immer lebt ein großer Teil der Menschheit in tiefster Armut. […] Das ist die hässliche Seite der Globalisierung, die Rücksichtslosigkeit des Stärkeren, und leider ist daran auch Europa beteiligt. Auch Europa hat jahrzehntelang Entwicklungshilfe vor allem als Instrument des Kalten Krieges und der Exportförderung betrieben, ohne groß zu fragen, was den Menschen in den Empfängerländern wirklich nutzte. Auch Europa errichtet Handelsbarrieren gegen die Entwicklungsländer, überschwemmt sie - auf Kosten der hiesigen Steuerzahler - mit Lebensmitteln zu Dumpingpreisen und zerstört damit dort die Erwerbs- und Lebensgrundlagen der bäuerlichen Gesellschaften. Auch Europa fischt Afrikas Küsten leer und verweist Kritiker kalt lächelnd auf geschlossene Verträge. Und dann reagiert Europa mit Erstaunen, Mitleid und einem Gefühl der Belästigung, wenn immer mehr Afrikaner sich in ihren Nussschalen auf den Weg übers Meer machen, um etwas Besseres zu finden als Armut und Elend."

Bezogen auf die wachsende Weltbevölkerung des Planeten heißt es in derselben Rede:

"Alle diese Menschen haben Anspruch auf Nahrung, sauberes Wasser, Bildung und menschenwürdige Lebensperspektiven. Und sie haben Anspruch auf den gleichen Respekt, den wir selber von anderen für uns erwarten."

Wer solche Positionen vertritt, ist ohne Zweifel ein geeigneter Präsident der Stiftung Weltethos. Köhlers Anwaltschaft für die Armen Afrikas und seine wiederholt vorgetragene Kritik an der europäischen Flüchtlingspolitik sind ebenfalls beste Empfehlungen für dieses Amt.

Das "Dementi" des Afghanistan-Interviews von 2010 kann glaubwürdig gemacht werden

Es bleibt jedoch weiterhin die Notwendigkeit eines glaubwürdigen "Dementis" zum Afghanistan-Interview vom 22.05.2010, in dessen Folge Horst Köhler vom Amt des Bundespräsidenten zurückgetreten ist. Im letzten Jahr noch bekundete das ehemalige Staatsoberhaupt in einem Zeit-Interview:

"Die Angriffe auf mich im Zusammenhang mit meinen Äußerungen über sicherheitspolitische Interessen Deutschlands waren ungeheuerlich und durch nichts gerechtfertigt."

Der mit einem "Weltethos" nicht vereinbare Wortlaut des Radiobeitrages ist damit aber noch nicht aus der Welt geschafft. Dieser Wortlaut vermittelt jedem, der lesen kann, ein Votum für militärisches Handeln im Dienste nationaler Wirtschaftsinteressen, und so hat ihn z.B. auch ein Karl-Theodor zu Guttenberg verstanden ( Neue christliche Leitkultur). Horst Köhler könnte heute - als ein freier Mann ohne Staatsamt - unmissverständlich erklären, dass er westliche Militärdoktrinen, die militärisches Handeln unter der Zielvorgabe nationaler Wohlstandssicherung ideologisch "absichern", als unvereinbar mit dem in der UN-Charta manifestierten Zivilisationskonsens betrachtet. Als Christ hat er außerdem die Möglichkeit zur Unterzeichnung der Ökumenischen Erklärung gegen Wirtschaftskriege, die von Soldaten und Pazifisten gleichermaßen mitgetragen werden kann.

Die ehemalige Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD), die 1998 bis 2009 auch Mitglied des Bundessicherheitsrates war, hat in der letzten Woche die Forderung der Aktion Aufschrei nach folgender Klarstellung im Grundgesetz unterzeichnet: "Kriegswaffen und sonstige Rüstungsgüter werden grundsätzlich nicht exportiert. Das Nähere regelt das Rüstungsexportgesetz." Die Kampagnenträger würden sich bestimmt sehr freuen, wenn der zukünftige Weltethos-Präsident Horst Köhler als der nächste prominente Unterstützer des Aufschreis gegen die todbringenden Kriegsexporte aus Deutschland in den Schlagzeilen stünde. Jene "christ"-demokratische Partei im Land, deren Politiker Panzerexporte nach Saudi-Arabien zur Stützung eines autoritären Regimes und als Beihilfe zur Niederwerfung von demokratischen Volksaufständen befürworten und ermöglichen, wären dadurch auch an die moralischen Minimalprinzipien der ursprünglichen Europa-Vision erinnert.