ISI - der mächtigste Drahtzieher in Afghanistan?

Nach einem Bericht der London School of Economics organisiert, finanziert und steuert der pakistanische Geheimdienst den Taliban-Widerstand in Afghanistan

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Verlässliche Geheimdienstinformationen spielen eine entscheidende Rolle im asymmetrischen Krieg der westlichen Verbündeten gegen die Taliban-Guerilla. Zahllose Berichte haben in der Vergangenheit immer wieder darauf hingewiesen, wie schwierig es für die US-Armee ist, an brauchbare Informationen heranzukommen, Zugang zu den inneren Kreisen der Kommandostruktur von militanten Talibangruppierungen zu finden. Seit gestern hat das Geheimdienst-Thema einen neuen Höhepunkt gefunden, um so mehr als der Waldman-Bericht, der seit Sonntag die internationale Öffentlichkeit beschäftigt, eine Annahme bestätigt, die seit vielen Jahren kursiert: Dass die pakistanische Regierung über ihren Geheimdienst ISI eng mit der Taliban-Führung verbunden ist - und nicht nur als mehr oder weniger passiver Beobachter, sondern dort aktiv mit eigenen strategischen Interessen großen Einfluss ausübt und also hinter dem Rücken des "amerikanischen Partners" agiert, auf Seiten des Feindes. Um damit Indiens Einfluss auf Aghanistan so gering wie möglich zu halten.

Interviews mit neun Taliban-Militär-Kommandeuren, die im Süden bei Kandahar, im Landeszentrum (Wardak) und im Südosten (Khost und Ghazni) operieren, plus einem Interview mit einem hochrangigen Taliban-Vermittler, legen für den Berichtverfasser, Harvard-Professor Matt Waldman, deutlich, "sonnenklar" (sein Bericht heißt "The Sun in the Sky"), an den Tag, dass der pakistanische Geheimdienst ISI den Widerstand in Afghanistan "organisiert", "unterstützt" und "steuert". Der Einfluss erstrecke sich nach Informationen Waldmans über die militärischen Operationen der Taliban-Guerilla hinaus auch auf Kommandeure der Haqqani-Insurgenten, die Basen in Pakistan unterhalten sollen. Die Gruppen würden neben strategischer Unterweisung mit Waffen, Munition, Material, Geld und Unterschlupfmöglichkeiten versorgt, ebenso würde bei der Ausbildung von Rekruten geholfen.

Die Erkenntnisse über Macht und Wirken des ISI unter den afghanischen Taliban gipfeln in zwei Szenarios, die dem Bericht großes Aufsehen eingetragen haben: So soll sich der oberste Rat der Taliban, die sogenannte "Quetta Shura" zu einem beträchtlichen Teil aus Mitgliedern des ISI zusammensetzen - aus sieben Mitgliedern, also beinahe der Hälfte des 15köpfigen Rats. Die Vermittler-Quelle "mit höherem Rang" geht hier noch weiter: Es sei "unmöglich", Mitglied dieser Shura zu sein, ohne der ISI anzugehören. Das andere Szenario schildert einen Besuch des pakistanischen Präsidenten Zardari in einem "geheimen Gefängnis", wo er 50 hochrangigen Taliban-Insassen gegenüber beteuert, dass sie nur auf Druck der USA gefangen genommen wurden, und ihnen weitere Unterstützung zusichert.

Die "Ungeheuerlichkeit" dieser Situation hat nicht nur die pakistanische Regierung zu Dementis veranlasst, sondern auch Reaktionen bei Beobachtern hervorgerufen, die die Plausibilität dieses Ereignisses und des gesamten Berichts bezweifeln (siehe "The cloud in the sky"). Warum würde der angeblich so sehr im Verborgenen operierende "uber-secretive ISI" nun auf einmal damit anfangen, seine Informationen an die Zivilregierung weiterzugeben? Aus welchem Anlass? Warum hätten, sollten die Informationen stimmen, sie es nötig, den Präsidenten selbst in das Gefängnis zu schicken, um den Taliban-Mitglieder mitzuteilen, was diese doch längst wissen sollten? Warum kam kein ISI-Offizier oder ein Militärkommandeur? Und dazu der große Zweifel, wie es sein könnte, dass der mächtige ISI es zulässt, dass Taliban-Kommandeure interviewt werden und dabei solche Aussagen machen?