¡Indignaos! Indignez vous! Empört euch!

"Wirkliche Demokratie Jetzt" besetzt nach der Platzräumung den zentralen Platz in der spanischen Hauptstadt erneut und will ihn zum spanischen Tahrir-Platz machen

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Der zentrale Madrider Platz - La Puerta del Sol - in Madrid soll sich in das Symbol des Aufstands der "Empörten" verwandeln. Die beziehen sich dabei auf das Buch des ehemaligen Résistance-Kämpfers Stéphane Hessel und seinem Bestseller "Indignez vous!" (Empört euch!).

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Protest am Sol, der Platz soll nach dem Vorbild der arabischen Revolten zum Protestort werden. Bild: Indymedia

Nach dem grandiosen Start der Bewegung Wirkliche Demokratie Jetzt am Sonntag, mit mehr als 50 Demonstrationen in spanischen Städten, wollen diejenigen "ohne Job, ohne Wohnung, ohne Pension und ohne Angst" diesen Platz zu ihrem Tahrir-Platz machen. Damit lehnen sie sich bewusst an die Revolte in Ägypten an, welche die Diktatur gestürzt hat und zum Ausgangspunkt für die Proteste in Nordafrika wurde, die in Grichenland schon längst angekommen sind. Sie schwappen nun über die Meerenge von Gibraltar auch auf die iberische Halbinsel.

"Bewegung 15-M" wird der Aufruhr in Medien schon entpolitisierend nach dem scheinbaren Entstehungsdatum (15. Mai) benannt. Dabei ist es vor allem die fatale Situation im abstürzenden Spanien, welche viele Menschen empört. Dass sie wirklich keine Angst mehr haben, zeigte sich gestern. Nach dem die Nationalpolizei (unter den Protestlern wegen ihrer Härte auch "Nazis" genannt) einige Hundert Menschen am sehr frühen Dienstag brutal von der Puerta del Sol geräumt hat, strömten viele tausend Menschen im Laufe des Tages wieder auf den Platz, um ihn erneut zu besetzen. Dabei beließen sie es nicht, sondern zogen auch zur Plaza de Castilla, um vor dem Gerichtsgebäude die Freilassung der 15 Festgenommenen zu erreichen. Die wurden schließlich von Hunderten unter stürmischen Applaus in Empfang genommen und zur Stadtmitte begleitet.

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Plakat der "Bewegung 15-M"

In der Nacht zum Mittwoch haben dann etwa 2000 Menschen auf dem zentralen Platz in der Hauptstadt übernachtet, um eine erneute Räumung zu verhindern oder vor den Kommunal- und Regionalwahlen am Sonntag den politischen Preis einer brutalen Räumung zu erhöhen. Da die Bewegung Durchhaltevermögen zeigt, wird es vor dem 22. Mai schwierig, sie wegzuprügeln, wie das im Spanien der "Zweiparteiendiktatur" der "PPSOE" durchaus üblich ist. Gegen die wollen nun viele Menschen ihre "moralische Revolution" setzen. Sie werben dafür, am Sonntag den rechten Sozialdemokraten (PSOE), die sich offiziell "Sozialistische Arbeiterpartei Spaniens" nennen, und der konservativen Volkspartei (PP) keine Stimme zu geben, die besser postfaschistisch genannt werden müsste, weil sie von einem Minister der Diktatur gegründet wurde (bis heute Ehrenvorsitzender) und in der sich die Franquisten gesammel haben.

Gegen die großen Parteien

Beide Parteien seien dafür verantwortlich, dass für die Wirtschaftskrise und die Bankenrettung die einfache Bevölkerung bezahlen soll. Die PP, die in der Hauptstadt und der Umlandregion regiert, kann ihre übliche harte Hand angesichts der massiven Proteste nicht zuschlagen lassen. In Granada, wo die PP das Bürgermeisteramt stellt, ließ sie abseits des Blitzlichtgewitters ein Protestcamp wie in Madrid räumen und drei Menschen festnehmen.

Die Partei erinnert sich noch an 2004, als sie überraschend die Parlamentswahlen verlor. Schließlich will sie der PSOE nun eine schwere Wahlschlappe zufügen und wenn möglich vorgezogene Neuwahlen erzwingen. Da wären Bilder von Polizisten oder Guardia Civil, die auf tausende Arbeitslose einprügeln, nicht wirklich gut. Schließlich versucht sich die Partei in der Krise als deren Vertreter aufzuspielen, um die Parlamentswahlen im nächsten Jahr zu gewinnen. Die regierende PSOE kann angesichts der Prognosen, die ihr einen schweren Absturz vorhersagen, ebenso wenig auf viele ihrer enttäuschten Ex-Wähler einprügeln lassen, weshalb der Protest gute Bedingungen zur Ausbreitung hat.

Viele der Protestler sind vor allem vom Regierungschef Zapatero enttäuscht, dem 2004 mit dem Abzug der spanischen Truppen aus dem Irak viele Sympathien zuteil wurden. Doch dann folgte ein Bruch der Wahlversprechen nach dem anderen und letztlich stürzte er dann über seine fatale Sozial- und Atompolitik. Hatte er noch vor 17 Monaten Forderungen der Unternehmer als "Angriff auf den Sozialstaat" bezeichnet, machte er 12 Monate den kopernikanischen Schwenk und setzte sie um, wie es auch aus Berlin von ihm gefordert wurde.

Keine Jugendbewegung

Das hat vielen die Augen geöffnet, die diesem "korrupten Zweiparteiensystem, das sie Demokratie nennen", nun eine Absage erteilen. Die gestrigen Bilder aus Madrid und von Demonstrationen in anderen Städten zeigen auch, dass es sich um keine Jugendbewegung handelt. Denn auch die Eltern, viele ebenfalls ohne Job und nicht selten keinerlei Unterstützung mehr erhalten, schließen sich den Protesten an. In 1,4 Millionen Familien sind alle Mitglieder arbeitslos. Als Gewalt des Systems wird deshalb angeprangert, dass man bestenfalls nach dem Ende des Arbeitslosengeldbezug noch 400 Euro für sechs Monate erhält. Danach darf man versuchen, sich über Betteln, Schwarzarbeit oder Diebstahl über Wasser zu halten.

Gewalt sei es auch, einen Mindestlohn von 624 Euro im Monat zu erhalten, wenn man überhaupt noch einen Job hat, womit man auch in Spanien nicht weit kommt. Doch fast 50% der jungen Leute haben nicht einmal einen solchen Job. Dafür, so wird kritisiert, werden Sparkassen und Banken mit immer neuen Milliarden gestützt, statt Arbeitsplätze zu schaffen, wie sogar die Weltbank inzwischen fordert.

Auch die Kommunikationsmedien sind Ziel der Kritik, weil im spanischen Staat ( außer im Baskenland) vor allem Parteipresse zu finden ist. El País gehört zur großen Prisa-Gruppe und damit zur PSOE. El Mundo, ABC mit ihren Lokalblättern (Diario Vasco, El Correo… ), La Razón stehen hinter PP oder noch weiter rechts. Ähnlich sieht es auch im Bereich der privaten Radio- und Fernsehstationen aus. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird jeweils von der Partei zur Propaganda eingesetzt, die gerade den Staat oder die Region regiert. Ihnen wird auch vorgeworfen, nicht über das Beispiel Island zu sprechen, wo man sich weigert, für die Exzesse der Banken zu zahlen und Banker auch in den Knast gehen mussten. Stattdessen werden Bankenhilfen wie in Deutschland als "alternativlos" dargestellt.

Man darf angesichts des großen Unmuts in Portugal erwarten, dass sich diese Bewegung auch auf das Nachbarland ausweiten wird. Denn dort finden am 6. Juni vorgezogene Neuwahlen statt, zu ersten starken Protesten und Generalstreiks kam es ohnehin schon.

Da dem Land mit der gestern verabschiedeten Nothilfe nun ein noch härterer Sparkurs aufgezwungen, ja sogar dem Wahlergebnis vorgegriffen wird, weil jede zukünftige Regierung ein festgeschriebener Kurs aufgezwungen werden soll, hebt den Unmut auch am westlichen Rand Europas auf eine neue Stufe. Auch dort wird nun eine enorm steigende Arbeitslosigkeit erwartet, die allerdings mit etwa 11% bisher nur halb so hoch wie in Spanien ist.