Deutschland profitiert von der Verarmung der EU-Peripherie

Was bei der Diskussion über die deutsche EU-Politik auch von deren Kritikern immer übersehen wird

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Die Kritik an der deutschen EU-Politik wird lauter. Längst sind es nicht mehr nur wütende Demonstranten in Griechenland, Portugal und Spanien, die mit Anti-Merkel-Parolen auf die Straße gehen. In Italien gehört Kritik an der Rolle Deutschlands längst zum guten Ton quer durch alle politischen Kreise. Das bekam Merkel sogar während ihres Osternurlaubs in Italien zu spüren.

Der Präsident der Region Kampanien Stefano Caldoro, wo die Bundeskanzlerin ihren Kurzurlaub verbrachte, schickte Merkel eine Videobotschaft mit einer vernichtenden Kritik an der deutschen Europapolitik und erzürnte damit die FAZ, die darin nur einen weiteren Beweis für eine "antideutsche Stimmung in Europa" sah. Dabei trat Caldoro eher als nachdenklicher Beobachter auf:

"Ich beginne mit dieser Betrachtung, um der Kanzlerin Merkel meine Begrüßung zu entbieten. (…) Ischia ist außerordentlich. Jedoch möchte ich der Kanzlerin Merkel auch sagen, sie sollte z. B. einige schwierige Viertel unserer Region zur Kenntnis nehmen – obwohl ich sie dazu nicht direkt einladen kann –, wo die jungen Arbeitslosen in Kampanien zu Ihrem Deutschland in einem Verhältnis von zehn zu eins stehen, einem Arbeitslosen in Deutschland entsprechen zehn Arbeitslose in Kampanien. Oder ich würde sie gern einladen, unsere Krisengebiete zu besuchen, weil diese Krise Konkurs und Schließung von Unternehmen, Schließung von Baustellen verursacht, mit Auswirkungen auf das Sozialwesen. Wir sind an der Grenze des Bruchs der Gesellschaft. Können wir uns dieses Doppel-Europa erlauben? Sollen wir ein antideutsches Gefühl nähren? Nein, wir müssen diese Gefühle bekämpfen. Aber die Kanzlerin Merkel sollte darüber nachdenken, dass es ein stärkeres Land gibt, das heute aus der Krise der anderen Vorteile zieht. (…)"

Peripherie und Metropolen

Mit dem letzten Satz hat Caldoro vielleicht unabsichtlich einen Fakt genannt, der in der aktuellen Debatte über die europäische Krise gerade auch bei Kritikern der deutschen EU-Politik oft vergessen, ja bewusst ignoriert wird. Es hat sich in Europa ein klassisches Metropole-Peripherie-Verhältnis etabliert. Das deutschdominierte Kerneuropa geht gerade deswegen gestärkt aus der Krise hervor, weil die Peripherie verarmt.

Die deutsche Wirtschaft profitiert von der sozialen Spaltung, die vor einigen Tagen in vielen Medien Anlass zu kritischen Artikeln über die Zukunft Europas gab. Da wurden die neuen Arbeitslosenzahlen in Europa bekannt und machten das Gefälle zwischen dem deutschdominierten Kerneuropa und der europäischen Peripherie besonders deutlich.

"Die ungerührten Deutschen" überschrieb die Taz-Redakteurin Ulrike Herrmann ihren Kommentar, in der sie Merkel vorwirft, ganze Generationen von Bürgern an der europäischen Peripherie in die Hoffnungslosigkeit zu treiben. Herrmann sieht eine Chance darin, dass demnächst auch in Deutschland die Krise spürbar werden könnte und die Arbeitslosigkeit steigt. Dann nämlich wäre "die Opportunistin Merkel" wohl aus innenpolitischen Gründen gezwungen, ihre Europapolitik zu ändern. Damit ventiliert die Kommentatorin eine Hoffnung, die Aktivisten der Krisenproteste seit nun mehr als fünf Jahren immer wieder haben. Die Krise sei hier noch nicht angekommen, heißt es dann, und wenn sie ankommt, wird auch in Deutschland der Widerstand zunehmen.

Die Schwierigkeit der gemeinsamen Kämpfe

Dabei wird zunächst unterschlagen, dass in Deutschland der Niedriglohnsektor bereits durchgesetzt ist und jetzt als Exportschlager für die gesamte EU dient. Die Situation in der europäischen Peripherie sorgt dafür, dass für den Arbeitsmarkt in Kerneuropa, hauptsächlich in Deutschland, billige Arbeitskräfte in großen Mengen vorhanden sind. Dadurch wird dafür gesorgt, dass der Niedriglohnsektor in Deutschland, aller Diskussionen über Mindestlöhne zum Trotz, nicht kleiner wird. Das könnte dazu führen, dass sich auch die ausgepowerten Lohnabhängigen in Deutschland, die bereits viele Opfer für den Standort bringen müssen, zu wehren beginnen und vielleicht erkennen, dass sie Gemeinsamkeiten mit einem Kollegen in Italien und Griechenland .

Auf solche Bewusstseinsprozesse zielen Proteste, wie sie Ende Mai mit den beiden Blockupy-Aktionstagen geplant sind. Doch dabei wird oft die spezifische Ideologie ausgeblendet, die eine solche Solidarisierung sehr erschwert. Die spezifische Ideologie, die sich in Metropolenstaaten auch bei großen Teilen der Lohnabhängigen herausbildet, kann als Sozialchauvinismus bezeichnet werden. Die von der Krise noch mehr Betroffenen werden nicht mit Solidarität, sondern mit Abwertung und Verachtung bedacht.

So kann der deutsche Hartz IV-Empfänger noch stolz erzählen, welche Opfer er für den deutschen Standort bringt und auf die "Pleitegriechen" schimpfen oder darauf anstoßen, dass das zypriotische Geschäftsmodell Pleite geht. Die meisten Krisenprotestler ignorieren die Rolle der Ideologie und sehen nur die Zahlen, die die wachsende Arbeitslosigkeit und die Wirtschaftsmisere in großen Teilen Europas deutlich machen. Doch die Ideologie ist dafür verantwortlich, wie sich die Menschen die Misere erklären und dann darauf reagieren. Ein gemeinsames europäisches "Wir" ergibt sich nämlich nicht aus den Statistiken über die europäische Wirtschaftsmisere, sondern auf die Art und Weise, wie sich die Betroffenen die Misere erklären.

Deutschland - die USA Europas?

Hier ist ein mit sozialchauvinistischen Tönen gespickter deutscher Standortnationalismus ebenso ein Hemmnis für gemeinsamen solidarischen Widerstand wie das Merkel-Bashing in den Ländern der europäischen Peripherie. Auch hier wird die Politik personifiziert und die Rolle der Ökonomie bleibt unbegriffen.

Diese Personifizerung der Politik ist aus dem Umgang mit den USA schon lange bekannt. Besonders als Präsidenten wie Ronald Reagan oder George Bush dort amtierten, hatte man den Eindruck, als würden die Kritiker die Politik der USA zu dieser Zeit aus der Psyche der jeweiligen Personen erklären. Politische Interessen der kapitalistischen Großmacht USA wurden fast völlig ausgeblendet. So können sich manche auch schwer erklären, warum sich die Politik von Obama in den Grundzügen gar nicht so sehr von der von Bush unterscheidet, obwohl die handelnden Personen so grundverschieden sind.

Sollte in der nächsten Zeit Merkel durch wen auch immer abgelöst werden, wären die Unterschiede gerade auch in der Europapolitik ebenso marginal. Denn das deutsche Standortinteresse ändert sich nicht mit dem Präsidenten oder dem Kanzler. Der Blick auf die USA könnte auch erklären, warum deutsche Spitzenpolitiker in verschiedenen europäischen Ländern in der letzten Zeit massiver Kritik ausgesetzt sind. Tatsächlich spielt Deutschland zunehmend die Rolle, die die USA lange Zeit in ihren mittel- und südamerikanischen Hinterhöfen hatte. Auch dort war jeder Besuch eines US-Präsidenten mit massiven Protesten verbunden.

Übrigens gab es auch in Deutschland durchaus politische Zusammenhänge, die diese Entwicklung zumindest in den Ansätzen frühzeitig theoretisch erfassten. Schon vor mehr als 20 Jahren gaben Redner auf einen der zahlreichen Kongresse, auf denen sich damals die deutsche Restlinke nach dem Umbruch von 1989 neu zu sortieren versuchte, eine recht präzise Beschreibung der aktuellen Situation. Da war von einer aufstrebenden europäischen Großmacht Deutschland mit einem Vorhof wirtschaftlich ausgepowerter Staaten als Hinterhof nach dem Vorbild der USA die Rede. Damals allerdings wurde der Hinterhof vor allem in Osteuropa verortet. Dass auch Griechenland, Portugal und vielleicht sogar Italien dazu gehören könnte, hätten sich selbst die erklärten Pessimisten von der Nie-wieder-Deutschland-Fraktion vor 20 Jahren nicht so recht vorstellen können.