Mein Bruder Saakaschwili

André Glucksmann, anerkannter Menschenrechtsclown, vollzieht eine Kehrtwende. Energiepolitik ist ihm plötzlich wichtiger als der Kampf um Ideen

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Vor mehr als dreißig Jahren wurde André Glucksmann auch hierzulande einem größeren Publikum bekannt. In Köchin und Menschenfressersowie in Die Meisterdenker hatte er, unter dem Eindruck von Solschenizyns „Archipel“-Buch stehend, mit dem Gulag-Kommunismus der damaligen Zeit abgerechnet. Für ihn war der Stalinismus kein Unfall, sondern stellte die stringente Fortsetzung der Lehren von Marx und Lenin dar.

Seit dieser Zeit beglückt der ehemalige Maoist und Befürworter der Kriege gegen Serbien und den Irak im Bunde mit Bernhard-Henri Lévy die Welt immer wieder mit neuen Protestnoten. Mal beklagen sie dieses, mal jenes Verbrechen wider die Menschlichkeit und/oder rufen die westliche Gemeinschaft zum Handeln und Eingreifen auf. Dabei scheinen ihn Russophobie, aber auch Ideologien, die seinen Worten nach "Alibi des Hasses" sind, zunehmend am (Nach)Denken zu hindern. Statt wie dereinst Denken und Ideen mit seinen bzw. ihren Tatsachen, Opfern oder Toten zu konfrontieren, hält er es inzwischen eher mit Hegels: „Um so schlimmer für die Wirklichkeit.“

Nur so wird verständlich, warum er in seinem jüngsten Rundschreiben ( Trügerische Süße eines Sommers), das an ein früheres Manifest anknüpft ( SOS Géorgie? SOS Europe!), die EU erneut dazu auffordert, den georgischen Präsidenten bedingungslos zu unterstützen. Der sieht sich, seit seiner ebenso erfolglosen wie dummdreisten Kampagne gegen den russischen Bären, von der Opposition des Landes zunehmend in die Enge gedrängt. Inzwischen hat er, genervt von wochenlangen Massenprotesten, eine angebliche Meuterei innerhalb der georgischen Armee gegen eine NATO-Übung auffliegen lassen. Zudem ist er dazu übergegangen, ehemalige Gefolgsleute der russischen Verschwörung zu bezichtigen. Schließlich ließ er am 15. Juni vor dem Polizeihauptquartier in Tiflis Protestierende ohne Vorwarnung von Polizisten und Sondereinsatzkommandos niederknüppeln.

Menschenrechte nach Gutsherrenart

Von all dem will unser „Menschenrechtsanwalt“ nichts wissen. Weder davon, dass Saakaschwili Wahlen gefälscht, Aufstände blutig niedergeschlagen, die Medien des Landes gleichgeschaltet und sich seitdem mit autokratischen Mitteln an der Macht hält, noch, dass er den Krieg gegen Russland begonnen und sein Land damit erst in jene Kalamitäten gebracht hat, denen es sich gegenwärtig gegenübersieht. Kein Wort auch darüber, dass Saakaschwili seine politischen Gegner ausspionieren und vom Geheimdienst elektronisch überwachen lässt und die Wirtschaft des Landes am Boden liegt. Seine Politik hat dafür gesorgt, dass das kleine Land, dessen Geografie von Glucksmann romantisch verklärt wird („wie die Toskana, zwischen einem Meer, das nichts Schwarzes an sich hat als den Namen, und schneebedeckten Gipfeln, mit einer der schönsten Kapitalen der Welt“) auf dem Weg ist, Drittweltland zu werden.

Doch auch das scheint Glucksmann nicht sonderlich zu irritieren. Sind die Protestierenden in seinen Augen allesamt ein zerstrittener Haufen, deren einziger Programmpunkt die bedingungslose Abdankung des Präsidenten ist, ist Sakaschwilli für ihn ein Regierungschef, der der russischen Repression widersteht, sich „auf Zustimmungsraten von 53 bis 65 Prozent“ berufen kann und sich angestrengt bemüht, „eine nichtkorrupte Regierung aufzubauen“.

Unsere Zukunft entscheidet sich am Kaukasus

Bemerkenswert an Glucksmanns Einwurf ist weniger, dass er Saakaschwili publizistisch zur Seite springt, als vielmehr, dass er den ideologischen Kampf um Freiheit, Demokratie und Menschenrechte dieses Mal weit hintenanstellt. Nur Saakaschwili, so Glucksmann, garantiere, dass eine von Gazproms Gnaden unabhängige Gaspipeline von Baku zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan gebaut wird, welche der EU „einen autonomen Zugang zu den Gas- und Erdölreichtümern Aserbaidschans, Turkmenistans und Kasachstans verschaffen“. Da Georgien dafür der „Schlüssel“ ist, dürfe Obama und insbesondere die EU den georgischen Präsidenten nicht fallen lassen. „Das unabhängige Georgien muss den Sommer 2009 überleben“, mahnt er eindringlich. In Tiflis entscheide sich, wer künftig den Kaukasus mit seinen Energieressourcen und Öltrassen kontrolliert. Auf dem Spiel stünde folglich Europas energiepolische Unabhängigkeit, erst recht, seitdem Putin „das Gas als Waffe“ entdeckt habe.

Ein besonderer Dorn im Auge scheint ihm dabei der ehemalige deutsche Bundeskanzler Schröder zu sein. Ihm wirft er vor, nichts getan zu haben, als Gazprom der Ukraine, und damit indirekt auch seinen Landsleuten, den Gashahn abgedreht hat. Dass die Ukraine ihrerseits den Konflikt bewusst provoziert hat, indem sie ausstehende Rechungen nicht beglich und illegal Gas abzapfte, das verschweigt der Protestschreiber allerdings. Das aber würde wiederum sein bekanntes Spiel vom antitotalitären (Überlebens)Kampf der Kleinen, Schwachen und Guten gegen die totalitären Großen, Starken und Bösen stören, den er schon in Tschetschenien gebührend gefeiert hat.

Das Beispiel Georgiens zeigt, dass „Menschenrechtsapostel“ gerne dann auch mal Freiheit, Demokratie und Menschlichkeit entdecken, wenn westliche Interessen im Spiel sind. Und zwar auch noch dann, wenn sie über die ethnisch-religiösen Hintergründe der Auseinandersetzung nichts wissen oder über die Vorgänge nur rudimentär informiert sind. Dann werden reflexartig Parolen formuliert und Protestschreiben aufgesetzt oder das faschistische Gespenst an die Wand gemalt. So zuletzt etwa zu beobachten, als im Iran der „Irre aus Teheran“ wiedergewählt wurde ( Fin de partie à Téhéran und in der westchinesischen Provinz Xinjiang ein Turkvolk den Aufstand probte.

Ein besonders krasses Beispiel lieferte dafür vor einiger Zeit die GRÜNEN-Fraktionschefin im bayerischen Landtag, Frau Margarete Bause, als sie sich mit jenen Uiguren solidarisch erklärte, die auf dem Münchner Marienplatz protestierten und eine gerade vorbeikommende asiatisch aussehende Frau mit Eisenstangen attackiert hatten.