Droht die Piratisierung Deutschlands?

Die Warnrufe verkennen, dass die Piraten schon in der kurzen Zeit des Bestehens mehrheitlich eine Rolle akzeptieren, für die die Grünen mehr als ein Jahrzehnt brauchten

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Die Zeiten, in denen die Piratenpartei nur Freunde in Deutschland zu haben schien, sind wohl vorbei. Im Magazin Cicero wird die Gefahr vor der Piratisierung Deutschlands an die Wand gemalt. Der Autor Malte Lehming begründet seine These mit der zunehmenden Forderung nach Plebisziten und Volksentscheiden, die mittlerweile zum Repertoire der Politiker fast aller Parteien gehören.

Gerade in der EU-Politik haben auch Unionspolitiker mittlerweile Volksbefragungen ins Gespräch gebracht. Dabei argumentierten gerade sie jahrelang so wie noch heute Lehming im Cicero. Dessen Aufsatz enthält allerdings bedenkenswerte Überlegungen, wenn er etwa daran erinnert, welch hohe Zustimmung die Thesen eines Thilo Sarrazin vor einigen Monaten in Umfragen bekommen haben. Wenn Lehming aber schreibt: "Wenn es etwa in der SPD immer basisdemokratisch zugegangen wäre, hätte Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 kaum Erfolg gehabt. Dann wiederum wäre Deutschland kaum so glimpflich zuerst mit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, dann mit der europäischen Schuldenkrise klar gekommen", bleibt er selber im ideologischen Denken befangen.

Schließlich sehen viele Ökonomen in dem nicht zuletzt durch die Agenda 2010 geschaffenen Niedriglohnland Deutschland, das die Länder an der europäischen Peripherie niederkonkurriert, den Grund für das wirtschaftliche Ungleichgewicht in der Eurozone. Politische Kommentatoren wie Lehming merken gar nicht, dass sie mit ihrem "Weiter so" schon längst die postdemokratischen Zustände affimieren, die dazu geführt haben, dass immer weniger Menschen von den politischen Parteien etwas erwarten.

Piraten als System

Lehming malt mit seiner Warnung vor der Piratisierung Deutschlands ein Schreckgespenst an die Wand, das seit den 1980er Jahren gegen die Grünen ins Feld geführt wurde. Erst 7 Jahre Rot-Grün haben jene Kassandras endgültig ins Abseits gestellt, die immer vor einer grünen Ökodiktatur warnten. Heute bescheinigen selbst ehemaligs vehemente Gegner der Grünen dieser Partei, dass sie durch die Integration sozialer und ökologischer Bewegungen ins politische System der BRD zur Stabilisierung des politischen Parteiensystems beigetragen habe.

Während die Grünen aber im ersten Jahrzehnt nach ihrer Gründung mit dieser Rolle noch haderten und ein einflussreicher linker Flügel vergeblich dagegen ankämpfte, haben die Piraten schon kurz nach ihrer Gründung diese Rolle als Systemstabilisierer anerkannt und werben offensiv damit. Dieser Befund zieht sich zumindest durch die 18 Aufsätze eines kürzlich im transcript-Verlag erschienenen Buches mit dem Titel "Unter Piraten. Erkundungen in einer neuen politischen Arena".

Die Frage, ob die neue Partei etwa zur Transformation des kapitalistischen Systems beitragen könnte, wird dort gar nicht erst gestellt. Sie wäre ja auch absurd bei einer Partei, die zu allen möglichen Themen eine Arbeitsgruppe eingerichtet hat, nur nicht zur weltweit durchaus heftig diskutierten Frage des Computersozialismus. In dem Buch sind viele Aufsätze aus dem Bereich von Politikwissenschaftern, die gerne daran erinnern, dass sie in der Süddeutschen Zeitung, der Zeit und Spiegel-Online publizieren und ihre Arbeit auch als Politikberatung verstanden wissen wollen.

Die Stärke der meisten Aufsätze, die sich mit der Vorgeschichte der Piraten, sowie ihres Nah- und Fernumfelds befassen, besteht in der oft treffenden Einordnung der neuen Partei in das bundesdeutsche Parteiensystem. Die Autoren nehmen die Metaphern vom neuen Betriebssystem, das die Piratenpartei liefern will, um einen Neustart und eine Optimierung des Systems durchzuführen, durchaus ernst. Der Exkurs zu der kurzen Geschichte der Barcamps, in denen auch die Managementerfahrungen der um das Internet zentrierten Unternehmen ausgetauscht wurden, schärft den Blick für die ökonomischen Veränderungen, die eine Voraussetzung für das Entstehen der Piratenparteien in vielen Ländern waren.

Soziale Blindheit der Piraten wird nicht hinterfragt

Während sich ein ausführliches Kapitel kenntnisreich mit der angeblichen Geschlechtsblindheit der Piraten auseinandersetzt, wird die Blindheit der Partei gegenüber der sozialen Frage nicht weiter hinterfragt, sondern von den meisten Autoren übernommen. Die Autorin Katja Kullmann thematisiert in ihrem Aufsatz, der auch in dem vor wenigen Monaten erschienen Buch "Die Piratenpartei. Alles klar zum Entern?" veröffentlicht ist, die Blindheit der Piraten dagegen mit polemischer Schärfe. Sie klassifiziert sie als "Speerspitze der kreativen Klasse", die "ihr Kapital gewinnbringend einsetzen will". Mit diesem Anspruch konkurrieren sie gegen andere Arten von Kapital, teilen aber mit diesen die Abwehr sozialer Ansprüche der unterbezahlten Beschäftigten der verschiedenen Industrien. Vor diesem Hintergrund könnte Lehmings Warnung vor der Piratisierung der deutschen Politik eine vom Verfasser nicht beabsichtigte Stoßrichtung bekommen.