Abstimmung nach Abstammung

Während 1,8 Millionen Menschen, die in Deutschland leben, kein Wahlrecht haben, dürfen Auslandsdeutsche, die nie hier lebten, wieder mitbestimmen

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Die letzte Phase des Wahlkampfs hat begonnen und schon hoffen manche, dass diese Phase bald abgeschlossen ist und die Plakate wieder aus dem Straßenbild verschwinden. Selbst eine wahlkampfplakatfreie Zone in der Berliner Innenstadt wurde von der Taz bereits in die Diskussion gebracht. Dabei wird oft vergessen, dass zahlreiche in Deutschland lebende Menschen gar nicht wählen dürfen. In einer Presseerklärung beziffert die Abgeordnete der Linkspartei Sevim Dagdelen die Zahl der in Deutschland lebenden Nicht-EU-Bürger von 1,8 Millionen. Sie dürfen in Deutschland nicht wählen, obwohl sie dort seit Jahren leben.

Dagdelen stelle die Forderung auf, dass in Deutschland mitbestimmen können muss, wer dauerhaft hier lebt. "Wahlrecht für Alle", lautet auch die Forderung der Berliner Stadtteilinitiative Nachbarschaftshaus Urbanstraße, die am Wochenende auf dem Festival gegen Rassismus einen Workshop zu dem Thema veranstalteten. Union und FDP konnten sich schon aus eigennützigen Gründen für die Forderung nicht begeistern.

Trägt das Wahlrecht zur Integration bei?

Diese Parteien konnten in Migrantenkreisen auf wenig Unterstützung zählen, weil sie auch nicht als deren Interessenvertreter auftraten. Doch eine nichtrepräsentative Telefonumfrage des Dortmunder Forschungsinstituts Futureorg kommt zu dem Schluss, dass die Unionsparteien bei Deutschtürken zulegen, während Grüne und SPD an Zustimmung einbüßen. Die Auslassungen des SPD-Mitglieds Sarrazin habe dabei ebenso eine Rolle gespielt wie die Unterstützung Grüner Spitzenpolitiker für die vom Gezipark ausgehenden Proteste in der Türkei. Es ist einleuchtend, dass Anhänger der türkischen AKP-Regierung nicht begeistert sind, wenn die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth in Istanbul den Schulterschluss mit seinen Kritikern übt. Erstaunlich war eher, dass Anhänger der konservativen AKP-Regierung überhaupt die Grünen gewählt haben. Dabei sind zahlreiche von deren Wertvorstellungen eher im rechten Lager aufgehoben.

So machen die Zahlen von Futureorg, sollten sie sich bei weiteren Vorstellungen bestätigen, deutlich, dass das Wahlrecht zur Integration von nicht in Deutschland geborenen Menschen beiträgt. Allerdings müssen die Ergebnisse des Instituts auch kritisch gesehen werden, weil dort von hochqualifizierten Migranten die Rede ist und so Nützlichkeitsrassismus Vorschub geleistet wird, der Menschen aus anderen Ländern dann Rechte zugesteht, wenn sie vermeintlich dem deutschen Standort nützen. Doch die Tendenz der Ergebnisse ist einleuchtend. Die Deutschtürken wählten zunächst mit den Grünen und der SPD Parteien, die ihnen mehr Partizipation versprachen. Hatten sie das Wahlrecht erreicht, entschieden sie sich für die Parteien, die ihren sonstigen politischen Ansichten am nächsten kamen - und da ist für die große Mehrheit der AKP-Anhänger die Union sicher eine Option. Dieser Trend dürfte sich verstärken, wenn Parteigründungsversuche wie das bei diesen Wahlen antretende Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit, dem gute Kontakte zur türkischen Regierung nachgesagt werden, im Promillebereich bleiben werden. Die CDU hat schon auf darauf reagiert und stellt vermehrt konservative Deutschtürken bei den Wahlen.

Die Übernahme der Forderung nach einem Wahlrecht für Alle ist allerdings bei der Union nicht zu erwarten. Eher dürfte das Konzept des modernistischen Flügels der Partei darin besehen, bestimmte Gruppen von Einwandern Partizipationsmöglichkeiten zu geben und andere weiter auszuschließen. Der noch einflussreiche traditionelle Flügel dürft schon mit solchen zaghaften Reformansätzen Probleme haben.

Rückkehr zum ethnischen Staatsbürgerrecht

Während also viele Menschen, die seit Jahren in Deutschland leben, weiter vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, dürfen bei der Bundestagswahl Auslandsdeutsche mit abstimmen, obwohl sie dauerhaft im Ausland leben und auch nicht vorhaben, nach Deutschland zurückzukehren. Sie müssen nur "persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland erworben haben und von ihnen betroffen" sein, wie es §12 Absatz 2 Satz 1 Ziffer 2 des Bundeswahlgesetzes heißt. Diese wenig beachtete Regelung wurde eingeführt, nachdem das Bundesverfassungsgericht eine Änderung des Wahlrechts in diesem Punkt angemahnt hatte. Der an der Universität Gießen lehrende Politikwissenschaftler Samuel Salzborn kritisiert diese Regelung als eine Rückkehr zum auf ethnischer Abstammung basierenden Staatsbürgerschaftsrecht, von dem sich die rotgrüne Bundesregierung 2000 eigentlich verabschieden wollte. "Aus der Perspektive eines 'Demos'-Konzepts, das nicht auf die ethnische Zusammensetzung des Wahlvolks Bezug nimmt, sondern auf die Menschen, die im Staatsgebiet leben, ist die neue Fassung nicht begründbar. Sie erlaubt schließlich Menschen, die nie, nur sehr kurz oder lediglich vor geraumer Zeit einmal in Deutschland gelebt haben und inzwischen dauerhaft in einem anderen Staat leben, über die Frage zu entscheiden, wie sich dieses Land künftig politisch ausrichtet", so Salzborn. Er gibt damit den Verfechtern des Konzepts Wahlrecht für Alle wichtige Argumente in die Hand. Es ist nicht verwunderlich, dass im Wahlkampf die Rückkehr zum Abstammungsprinzip bei der Abstimmung auch von den Grünen und den Linken nicht thematisiert wird. Schließlich will keine Partei auf die Stimmen der Auslandsdeutschen verzichten.