Das Böse in der S-Bahn

Die Verrohung der Jugend gibt es nicht, Strafen und Überwachungskameras helfen auch nicht.

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Nach solchen Ereignissen wird reflexartig reagiert. Da wird ein Mann, der ein paar Kinder vor Rowdies schützen wollte, von diesen zu Tode geprügelt. Gefordert werden Überwachungskameras, als würden die den Vorfall verhindert haben, der vor den Augen mancher Zeugen und eine Minute vor dem Eintreffen der Polizei stattgefunden hat. Auch härtere Strafen würden wohl die Tat nicht verhindert haben. An die Anwesenden kann man appellieren, keine Angst zu haben und einzuschreiten, zwingen kann man sie zur Hilfeleistung nicht.

Fälle wie dieser erschrecken und machen Angst. Die Menschen verlieren das Vertrauen. Ähnlich wie beim Terrorismus sind es aber nur äußerst seltene Einzelfälle. Von diesen auf eine Verrohung der Gesellschaft oder der Jugend zu schließen, ist dämlich oder dient eigenen Interessen. Immerhin waren die beiden Jugendlichen Deutsche, was die zwanghaft anstehende Diskussion über Migranten gar nicht erst ermöglicht.

Man kann, wie es die FAZ macht, das Opfer heroisieren. Seine an sich selbstverständliche Tat, Kinder vor Gewalt zu schützen, ist ihm hoch anzurechnen. Und sein Tod wird sicherlich Folgen haben. Vermutlich werden noch weniger Menschen bereit sein, anderen zu helfen. Das ist die über das Individuelle hinausweisende Tragödie. Diejenigen, die gegen riskantes Eingreifen sind, werden sich bestärkt fühlen. Sie haben ihr eigenes Leben gerettet. Durch das Wegschauen. Schön für sie wird das trotzdem nicht sein, schließlich haben sie sich schuldig gemacht.

Justizministerin Zypries hat den Eindruck, "dass die Verrohung unter Jugendlichen seit Jahren zunimmt. Das mag vor allem daran liegen, dass es bei vielen jungen Menschen an einem vernünftigen Sozialverhalten fehlt. Wir müssen wieder dazu kommen, dass Jugendliche ihre Freizeit gemeinsam mit anderen bei Sport oder Theater verbringen und dabei lernen, Kompromisse zu schließen. Sie müssen erkennen, dass es kein Angriff auf das eigene Selbstwertgefühl ist, wenn sie sich der Meinung anderer beugen müssen. Viele Jugendliche haben heute zu wenig Frustrationstoleranz." Präventiv müsse also mehr für Jugendarbeit getan werden. Das ist ohne Zweifel richtig, politisch aber nicht in Zeiten praktikabel, in denen die Schuldenberge des Staates wachsen, man lieber systemischen Banken und Betrieben hilft und ansonsten Steuersenkungen verspricht.

Ob sich alle Ausraster von verkorkst in einer kapitalistischen Gesellschaft aufwachsenden Jugendlichen durch mehr Jugend- und Sozialarbeit verhindern ließen, ist eine nicht zu beantwortende Frage. Klar ist jedoch, dass mit dem grausamen Schicksal des Mannes, der Zivilcourage bewiesen hat, Schindluder betrieben und Angst geschürt wird. Die Medien lieben das, die Politiker können es ausbeuten, aber niemand hat davon etwas. Die Bild titelt gewohnt: Warum sperren wir so ein Pack nicht für immer weg?

Die Täter sind erwartungsgemäß verkorkst, die Familie hat Ungeheuer produziert, Drogen mögen den Rest besorgt haben. Das Böse ist meist nur umstandsbedingt böse, es handelt sich um Biographien des Scheiterns.

Trotzdem waren die beiden Jugendlichen böse - und wir müssen eine Umgangsform mit dem Bösen finden, die früher die Religionen und wahrscheinlich auch grausame Strafrituale angeboten haben. Ganz gewiss ist die Verwahrlosung von Jugendlichen, die ohne Chancen in eine brutale Gesellschaft hineinwachsen, ein wesentlicher Grund für die mörderische Gewalt, die an einem kleinen Vorfall explodieren kann. Aber wir werden das Böse nicht eliminieren können.