So lange ich lebe, werden wir Italien besiegen

11 Männer gegen 11 Bubis: Vor dem zweiten Halbfinale übernimmt Politik den Fußball - Schulden und ein Lob des Südens

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Wem ist eigentlich schon aufgefallen, dass es ausgerechnet die vier postfaschistischen Länder Westeuropas sind, die es ins Halbfinale der EM geschafft haben? Auch so kann man nämlich die Konstellation Deutschland-Italien-Spanien-Portugal erzählen: Nicht mehr "Merkelland gegen die Schuldenstaaten", sondern "Alte Achsen leben länger". Man könnte natürlich auch sagen: "Westeuropa ist wieder unter sich" und: "Der Süden übernimmt die Macht". Schließlich gilt sogar die Bundesrepublik in den Augen mancher Rechtskonservativer als längst von der "italienischen Krankheit" angekränkelt.

So oder so ist klar: Ohne politisch-soziologisch-kulturelle Deutungen wäre Fußball nur halb so lustig. Wer will schon nur ständig über Taktiktafeln brüten, darüber sinnieren, ob der Tiki-Taka des spanisch-katalanischen Welt- und Europameisters nun ein levantinisch korrupter "Tiki-Takanaccio" ist, ein undeutsches "Geticker und Getacker" oder doch Screwball auf dem Grünen Rasen.

"Ein Zusammenhang zwischen fußballerischem Erfolg und Verstrickung in die Eurokrise lässt sich natürlich nicht direkt beweisen. In den Medien werden jedoch immer wieder solche Bezüge hergestellt – so etwa wenn italienische Zeitungen titeln: "Merkel, wir kommen!" oder griechische Blätter vom "Spiel der Zinssätze" sprechen. Fußball und Politik scheinen hier gefühlsmäßig denselben Punkt zu treffen.

Geht man diesem Gedanken nach, scheint es dann doch so, als ob die wirtschaftspolitische Krise den Beteiligten zusätzliche Kräfte verleiht. Gerade die überschuldeten Länder sind offenbar "heiß" darauf zu zeigen, dass sie etwas "drauf" haben. Man bekommt den Eindruck, dass der Beweis geführt werden soll, in ihnen stecke mehr Potential als in der Wirtschaftskrise ihres Heimatlandes aktuell zum Vorschein kommt. Die starken Leistungen der Mannschaften dieser Länder haben sie in das Viertelfinale und die Meisten sogar in das Halbfinale geführt." Aus der Pressemitteilung zur Oettinger-Deutschland-Studie

Ist dies alles reiner Zufall, oder liegt dem Ganzen vielleicht doch eine unbewusste kollektive Inszenierung zugrunde?

In jedem Fall ist klar: Was immer auch im Fußball geschieht, hat, Brot hin, Spiele her, symbolische Bedeutung über das Stadionrund hinaus. Und das Symbolische, also Ästhetische wird in Deutschland seit jeher chronisch unterschätzt.

"Dieses Mal werden wir als Sieger vom Platz gehen."

"Às armas, às armas! … Zu den Waffen, zu den Waffen! Für das Vaterland kämpfen, ... marschieren, marschieren!" Portugiesische Nationalhymne

Und gestern gegen 23.15 Uhr gab es einmal Jubel im Lande des Möchtegerneuropameisters, als nämlich Xavi Alonso den ersten Elfmeter gegen Portugal vergeigte. Schon klar: Man hätte dann doch allzugern den schlechteren Gegner gehabt am Sonntag. Wenn die deutschen Gladiatoren Italien denn überhaupt bezwingen.

Na gut, kann ja sein, dass heute Abend Deutschland die italienische Msnnschaft erstmals in einem offiziellen WM- oder EM-Turnier besiegen wird. Kann auch sei, dass die schwarze Serie der Deutschen gegen die Italiener auch diesmal wieder ein neues Kapitel bekommt. Zumindest eines spricht dafür: Hochmut kommt vor dem Fall.

Es war schon eine merkwürdige Koinzidenz: "Dieses Mal werden wir als Sieger vom Platz gehen", sagte Jogi Löw, entschlossen wie selten. Ein klares und erstaunlich emotionales Signal an die Konkurrenz. Italien werde die deutsche Mannschaft "unseren Rhythmus aufdrängen. ... Es stimmt, wir haben uns immer schwer getan gegen die Italiener, aber diesmal wird es anders sein."

Diese Entschlossenheit korrespondiert mit der der Bundeskanzlerin auf dem EU-Gipfel, wo, Zufall oder Schicksal, ihre Hauptkontrahenten Mario Monti und Manuel Rajoy sind, die Ministerpräsidenten von Italien und Spanien. So lange sie lebe, werde es keine Schuldengemeinschaft geben - diese Kampfansage an Europa formulierte eine spürbar entnervte Angela Merkel gestern im Bundestag. Während Italiener, Spanier und auch Portugiesen ein Zeichen des Entgegenkommens erhoffen, verschärft die Kanzlerin ihre Haltung. Deutschland gegen den Rest Europas.

"Ihr seid ja nur Pizzalieferant"

Dabei ist vor allem die Begegnung mit den Italienern hart: Die Verachtung, die der Deutsche seit jeher für den Italiener hegt - "Ihr seid ja nur Pizzalieferant" -, wird beim Fußball schnell in blanken Hass verwandelt. Man muss da nicht die Fußballgeschichte bemühen - das 3-4 beim "Jahrhundertspiel" 1970, das 1-3 beim WM-Finale 1982, das Ende des "Sommermärchens" 2006 durch ein 0-2 -, vielleicht ist den Spielern der "Squadra Azzura" viel mehr präsent, dass es darum geht, gegen Austerity-Merkel ein Zeichen zu setzen.

Und man kann ja sagen, was man will, aber wenn man diese italienischen Spieler sieht, die 11 Männer, die heute Abend gegen 11 Bubis antreten, Pirlo, der schon aussieht wie eine Michelangeloskulptur, der mit Eiseskälte seinen Elfmeter lupfte und die Engländer schockfrostete, oder "La Bestia" Buffon, das Tier im Tor, oder Balotelli und Cassano, die tumben Brecher im Sturm, dann kann man sich vorstellen, wie die Renaissance wohl wirklich gewesen ist, mit welcher Verachtung die Condottiere der Stadtstaaten und des Papstes seinerzeit auf die rasenden Mönche aus Deutschland blickten, die die Bibel ernst nahmen, statt sich um das Wesentliche zu kümmern, die ihren Gottesstaat errichten wollten, ohne Rücksicht auf die Menschen. Merkel und Löw, das ist Luther, Bismarck und die anderen, deren Namen wir hier jetzt nicht nennen wollen. Pirlo und Buffon, das ist der Süden!

Von Italien lernen, heißt siegen lernen

Das Land der Sonne und des Rettungsschirms, des besseren Lebens und des besseren Essens, der Kunst und des Laissez-faire. Der Süden, also Spanien und Italien stehen für Gelassenheit statt Hysterie, für Leben heute, statt Leben morgen, für Diesseits statt Jenseits, für ausgeben statt sparen, für Konsum statt "Geiz ist geil!", für "passt scho'" statt "Das muss aber seine Ordnung haben", für Ferien statt Nachhilfe, Männermacht statt Frauenpower.

Wenn heute Abend auch eine Entscheidung fallen sollte zwischen Nord und Süd, dann muss man für den Süden sein. Denn der Süden soll sich nicht nach dem Norden richten, sondern umgekehrt. Unser Fußball muss unvernünftiger werden, spielerischer, leichter, katholischer. In den letzten Jahren war es so.

Hoffen wir also, dass Italien ein Zeichen setzt. Oder dass Deutschland italienischer wird. Denn von Italien lernen, heißt bekanntlich siegen lernen. Nicht nur im Fußball.