"Wie Tiere behandelt"

Frankreich: Ein Problemviertel, die Wut der Bewohner auf die Polizei und eine Regierung, die versucht, sich anders zu zeigen als "Kärcher-Sarkozy"

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Die Öffentlichkeit schien diese Wirklichkeit ganz vergessen zu haben. Von den „Problemvierteln“ war kaum mehr die Rede, die Euro-Krise, die lahmende Wirtschaft, der Spitzensteuersatz dominierten den Präsidentschaftswahlkampf und die Medienberichte darüber, das unbequeme Thema blieb ein Randthema, auch für die Sozialdemokraten. Nun sorgt ein „Problemviertel“ in der nordfranzösischen Stadt Amiens für neue Schlagzeilen mit den bekannten Erscheinungen: Wut der Einwohner gegenüber der Staatsmacht, personifiziert durch die Sicherheitskräfte der CRS ( Sicherheitskompanien der Republik), die in Ausschreitungen eskaliert. 17 verletzte Polizisten, in Brand gesetzte Autos und Mülleimer, aber auch eine Schule und eine Sporthalle ging in Flammen auf.

Gestern besuchte der neue Innenminister Manuel Valls Amiens. Ein Gang auf rohen Eiern, wie die Zeitung Libération den Besuch beschreibt. Denn es wird genau beobachtet, wie sich die Vertreter der neuen Regierung verhalten - ob sie in die Fußstapfen Sarkozys treten. So sprach denn Valls zwar, wie es alle Innenminister bei dergleichen Anlässen tun, von der Notwendigkeit die Ordnung wiederherzustellen und dass die Angriffe gegen die Sicherheitskräfte wie die Brandanschläge unentschuldbar seien, er fügte jedoch hinzu, dass er nicht gekommen sei, um das Viertel dem "Kärcher" zu überlassen.

Sarkozy hatte sich zu seiner Zeit als Innenminsiter zur Äußerung hinreißen lassen, dass man die Vorstädten mit einem solchen Hochdruckreiniger säubern müsste. Als im Jahr 2005 schwere Unruhen in den Banlieues ausbrachen ( Aufruhr in den Städten), machten so manche politischen Beobachter Sarkozy zum Vorwurf, dass er mit seiner aggressiven Ausdrucksweise einen Auslöser der Novemberkrawalle geliefert hatte.

Die gestrige Nacht war ruhig, keine Vorfälle in Amiens, berichten Medien heute. In den Nächten zuvor gab es die oben genannten Ausschreitungen. Die hatten sich entzündet, als die Polizei, die einen jungen Autofahrer kontrollierte, mit Besuchern einer Beerdigung zusammentraf, die sich in ihren Trauerfeierlichkeiten von der Präsenz der Polizei gestört fühlte. Betrauert wurde ein junger Mann, der bei einem Unfall ums Leben kam. Bei der Auseinandersetzung zwischen den Polizisten und den Besuchern der Trauerfeier soll der erste Funke für weitere Ausschreitungen gezündet worden sein, so lokale Berichte. Dass der Konflikt mit der Polizei eskaliert, wird von Bewohnern des Viertels, wie etwa der Mutter des Betrauerten, damit erklärt, dass die Bewohner von der Polizei "wie Tiere behandelt" würden. Und dass deswegen die Jugend im Viertel voller Wut stecke.

Die Regierung steht nun vor der Schwierigkeit, einerseits Härte zu zeigen, anderseits aber auch zu dokumentieren, dass man sich anders mit den Problemvierteln auseinandersetzen will als die sozial kalte Vorgängerregierung unter Sarkozy. Das erste Signal, das Staatspräsident Hollande in der Sache gab, zielt auf Sicherheit, auf eine Botschaft, die Standfestigkeit vermitteln will, dass der Staat alles im Griff hat und die Gewalt so schnell wie möglich beendet. Dafür werde man alle Mittel des Staates einsetzen, betonte François Hollande.

Das Viertel in Amiens zählt zu den 15 neuen Zonen erster „Sicherheits-Priorität“ (zones de sécurités prioritaires (ZSP), die die Regierung Hollande geschaffen hatte, um dort die Polizeipräsenz auszudehnen und die Präventionsmaßnahmen zu verstärken. Das kann, worauf die Regierung, sollte es in Amiens Banlieue ruhig bleiben, wahrscheinlich verweisen wird, Ausschreitungen möglicherweise schnell in den Griff bekommen. Soziologen sind jedoch der Meinung, dass Gewalt jederzeit wieder aufflammen können, dafür sorge das soziale Klima. Indem man Konflikte zwischen den Jungen und dem Staat nur durch die Brille der Ausschreitungen wahrnehme, würde man sie banalisieren und ihre Brisanz nicht erkennen.

Man darf gespannt sein, ob Hollandes Regierung und das Innenministerium über Stärkung des Sicherheitsapparats hianus auch berücksichtigt, was Sarkozys Regierungsmannschaft völlig übergangen hat, die beachtliche Arbeit des französischen Soziologen und Islamexperten Gilles Kepel zu den Vorstädten und deren Verhältnis zur größeren Gemeinschaft: ( "Banlieue de la République").