Family Plots

Fantasy-Filmfest-Blog – 4. Tag: "The Disappeared", "Monn", "Deliver us from Evil" und "Case 39"

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Wenn es um die Verwandtschaft geht, kennt das Genre-Kino oft keine Verwandten. Gerade die Einblicke in mikrosoziale Gefüge offenbaren ja Dinge, die eigentlich als privat gelten und damit per se nicht Gegenstand medialen Interesses sein sollten. Ob nun das Grauen, das solche Filme dann oft veröffentlichen, eher eine Parabel auf unseren verbotenen Blick ist, oder ob damit wirklich Missstände "offengelegt" werden, das konnte man sich am vierten Fantasy-Filmfest-Tag selbst aussuchen.

"The Disappeared" beginnt als eine Sozialstudie über Jugend und Kindheit der Londoner Arbeiterklasse und sucht sich einen besonderen Einzelfall heraus: Ein alleinerziehender Vater verliert den jüngsten seiner beiden Söhne, weil dessen älterer Bruder sich lieber um sein Bier und seine Freunde gekümmert hat, anstatt aufzupassen. Der 8-Jährige verschwindet eines Nachts von einem Kinderspielplatz und in der Folge zerrüttet auch das Verhältnis zwischen dem Vater und seinem jugendlichen Sohn immer mehr. Als dieser anfängt aus Fernsehern und Radios die Stimme seines Bruders zu hören, beginnt er eine Recherche im Reich des Okkulten. Natürlich halten ihn alle für verrückt und als die Schwester eines Freundes ebenso unerklärlich verschwindet, dafür aber immer mehr Phantome im Leben des Teenagers auftauchen, mehren sich die Zeichen, dass es hier nicht um normale Verbrechen geht. "The Disappeared" verhandelt soziale Missstände und Katastrophen, wie Kindesmissbrauch, Jugendgewalt und die Atomisierung der Kleinfamilie als fantastischer Stoff und bietet damit auch die Möglichkeit einer metaphysischen Auseinandersetzung mit diesen Themen. Der Film transponiert seine Geschichte vom Realen in das Reich des Horrors mit unglaublicher Feinfühligkeit und Langsamkeit, so dass dem Zuschauer genug Zeit bleibt, diese Wandlung mit zu vollziehen.

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The Disappeared

Das gelingt "Antikörper"-Regisseur Christian Alvart mit seinem "Case 39" nicht. Auch hier geht es zunächst um ein handfestes soziales Thema: Kindesverwahrlosung. Eine Sozialarbeiterin nimmt sich des Falls einer 11-Jährigen an, die glaubt, ihre Eltern wollen sie umbringen. Als sie diese dann auf frischer Tat dabei ertappt, wie sie das Mädchen in einem Ofen zu grillen versuchen, lässt sie die Eltern ins Irrenhaus sperren und nimmt das Mädchen zu sich. Das entpuppt sich jedoch zusehends als Engelsgesicht mit teuflischen Ambitionen. Es treibt Freunde und Kollegen seiner neuen Mutter in den Selbstmord und lässt auch bald seine Ziehmutter spüren, wenn ihm etwas nicht passt. Als alle Versuche der Sozialarbeiterin scheitern, die Kleine wieder loszuwerden, entsinnt sie sich der immer noch eingesperrten Eltern und fragt diese um Rat ... Der Umschwung von der fürsorglichen zur mordbesessenen Pflegemutter ist schlecht vorbereitet, findet zu schnell statt und scheint nur das Ziel zu haben, den Film endlich auf sein gewalttätiges Ende zuzutreiben. Dieser Hau-Ruck-Plot in Verbindung mit Schock-Soundeffekten zeigt einmal mehr, dass Alvart bloß daran interessiert zu sein scheint, Genremuster zu wiederholen ohne etwas wirklich Originelles auf die Beine stellen zu können. Und die Vielzahl ähnlicher Filme über böse Kinder (die deutlichsten Bezüge finden sich zu einer Episode aus dem 1983er "Twilight Zone"-Film) unterstreicht dies einmal mehr.

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Case 39

Einer der ersten Höhepunkte des Festivals ist Ole Bornedals "Deliver us from Evil", in dem der "Nachtwache"-Regisseur vom alltäglichen Rassismus seines Heimatlandes Dänemark erzählt. Als Beispiel sucht er sich ein kleines Örtchen heraus, stellt zunächst die Bekanntschafts- und Verwandtschaftsbeziehungen der Einwohner vor und liefert mit einem Bosnien-Flüchtling einen "Eindringling" in diese Sphäre. Als es zu einem Unfall kommt, sind fast alle sofort bereit, dem Außenseiter die Schuld zu geben und inszenieren eine Hetzjagd auf ihn, an deren Ende Blut fließt. Bornedal gelingt es mit seinem einzigartig subtilen Humor aus "Deliver us from Evil" nicht ein Lehrstück im Stile "Dogvilles" werden zu lassen, obwohl viel aus seinem Film daran erinnert. Anstelle dessen sorgt er dafür, dass wirklich niemand mit sauberen Händen aus der Geschichte hervorgeht und wir uns am Ende fragen müssen, wie und warum wir unsere Sympathien und Antipathien auf bestimmten Figuren verteilt haben. Das Ganze ist in farbschwachen Bildern und zumeist im Freien gedreht, so dass die Engstirnigkeit der Protagonisten durch die Weitschweifigkeit ihres Handlungsraums perfekt kontrastiert wird.

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Moon

Mit "Moon" liefert David Bowies Sohn Duncan Jones seinen ersten Langfilm ab und erzählt von einer Zukunft, in der es keine Umweltzerstörung und keine Energieprobleme mehr gibt, weil man auf dem Mond eine saubere Energie-Quelle entdeckt hat. Die wird abgebaut von riesigen Erntemaschinen, die jedoch von Menschen gewartet werden müssen. Dafür ist Sam Bell, gespielt von Sam Rockwell, in einem Dreijahresvertrag verpflichtet worden, dessen Ende schon in Sicht ist. Auf der Erde erwarten ihn seine Frau und die kleine Tochter. Doch dann passiert ein Unfall, und plötzlich findet sich ein Fremder in der Mondstation, der genauso aussieht wie Sam, über dieselben Erinnerungen verfügt und damit Anspruch erhebt, der echte Sam Bell zu sein. "Moon" nutzt den beschränkten Handlungsraum der Mondstation dazu, eine Story über Identität und zwangsweiser Verwandtschaft zu erzählen und mit einer utopischen Wirtschaftsethik zu plausibilisieren. Die Gründe für die eigenartigen Vorkommnisse werden jedoch keineswegs als Pointen präsentiert (trotzdem erwähne ich sie hier nicht!), sondern stellen sich wie selbstverständlich nach und nach ein und versauen so das Bild jener "schönen neuen Welt", die der Film zu Beginn heraufbeschworen hatte. Die Leichtigkeit der Inszenierung, die liebevollen Allusionen an berühmte Genrevertreter wie "2001" und "Dark Star" und das großartige Doppel-Spiel Sam Rockwells machen aus "Moon" einen überaus sehenswerten Science-Fiction-Film.