Plebsfreundliche Entrüstung

Nun greift auch Karl-Heinz Bohrer in den Philosophenstreit zwischen Sloterdijk und Honneth ein. Schneidig und kantig, wie man es von ihm gewohnt ist.

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Das ist wirklich ein Pfund, das Karl-Heinz Bohrer da ( Lobhudeleien der Gleichheit) in die Diskussion wirft und das dazu führt, dass aus dem persönlichen Streit zweier Philosophieprofessoren, über den wir vor Tagen ausführlich berichteten ( Ich bin auch noch da) doch noch eine richtige Debatte wird. Vor knapp vierzehn Tagen hatte Sepp Gumbrecht, von Der Zeit um eine Stellungnahme gebeten, noch allzu "versöhnlerisch" gewirkt und "helfend" in der Auseinandersetzung eingegriffen. Offensichtlich wollte der schlaue Fuchs es sich weder mit dem einen noch mit dem anderen verscherzen – auch wenn eine milde Parteinahme für den Karlsruher zu vernehmen war.

Linker Moralismus

Auf derlei Taktiken und Strategien braucht Karl-Heinz Bohrer schon lange keine Rücksicht mehr zu nehmen. Als Professor im Ruhestand ist er nicht mehr auf akademische Meriten, welcher Art auch immer, angewiesen. Und als Herausgeber des Merkur hat er schon seit Jahren ein intellektuell bedeutendes Medium zur Hand, um seine Einsichten, Kommentare und Stellungnahmen öffentlich zu machen. Er muss nicht fürchten, wegen der einen oder anderen unbedachten, provokanten oder inkriminierten Äußerung im Publizieren eingeschränkt oder irgendwie gehindert zu werden. Von daher kann er auch relativ unbeschwert vom Leder rocken. Er kann "durch die aufgestellten Bäume" der Frankfurter, wie er schreibt, auf jenen "richtigen Wald" blicken, jenen "Sozialdemokratismus", der spätestens seit Anfang der 1970er die Nomenklatura der Bundesrepublik bildet. Er ist es vor allem, der seine schützende Hand über den laut Bohrer "allmählich verkommenden Sozialstaat" hält und ihn und viele andere um den wohlverdienten finanziellen Zugewinn bringt, indem er beispielsweise die Hälfte der Summen für Auszeichnungen oder Kulturpreise, die er austeilt, danach auch gleich wieder einkassiert. "In einem Land", schreibt Bohrer dazu, "das seit Jahren durch das Schwinden des Freiheitsmotivs zugunsten des Gleichheitsprinzips an geistiger und politischer Attraktivität verliert, in einem Land, in dem seit Bismarcks Sozialgesetzen und der Nazis sowie der DDR-Kommunisten die Zerstörung bürgerlicher Denk- und Verhaltensformen anhält, während das Gleichheitsprinzip als das Selbstverständliche immer mehr vorherrscht, entblöden sich die beiden Philosophieprofessoren nicht, ihrer plebsfreundlichen Entrüstung den Anschein von längst erwiesenen Prinzipien zu geben."

Mit Prinzipien meint er vor allem den Gegner "einschüchtern wollende Axiome" wie: "moralisch sich begründende Prinzipien", "moralische Legitimierung", "moralischer Universalismus", "philosophisch inspirierte Gesellschaftskritik" usf., Kategorien und Begrifflichkeiten also, die, wie wir längst wissen, ihrerseits der Begründung und theoretischen Legitimierung bedürfen.

Weil die Frankfurter aber wissen, dass das nicht möglich ist, sie diese Prinzipien bestenfalls per Akklamation behaupten können, um ihre "plebsfreundlichen Wünsche" politisch und intellektuell aufzuladen, wenden sie diese für Kenner "einschlägigen Kategorien" stets als Taktik an, um die oder den anderen des falschen oder "schlechten Denkens" zu überführen. Das Grundproblem des Streites, der Konflikt zwischen "Freiheit" auf der einen und "Gleichheit" auf der anderen Seite, bleibt dabei naturgemäß auf der Strecke.

Linkes Schubladendenken

Auch Bohrer gesteht, nicht unbedingt ein Freund des Sloterdijkschen Schreib- und Denkstils zu sein. Ihm gefällt aber sein Einfallsreichtum, der den Frankfurtern bekanntermaßen abgeht und auf den sie mit und im gewohnten "tierischen Ernst" reagieren. Mit Ironie wussten und wissen die Frankfurter schon immer nicht besonders gut umzugehen. Dafür fehlt es ihnen nicht nur an Stil und intellektueller Geschmeidigkeit. Darum wetterten sie auch so vehement wider den postmodernen Zeitgeist, was Richard Rorty dann auch dazu nutzte, den einen oder anderen Schabernack und Spott mit den Frankfurtern zu treiben.

Zu lachen gab und gibt es am Senckenberg, und da hat sich seit den seligen Zeiten Horkheimers und Adornos nichts geändert, ja auch wenig, zumindest in den Büchern und Schriften nicht, die immer in der "Sprache des Ernstes" verfasst werden. Daher wundert sich Bohrer auch nicht, dass sie Sloterdijks mit Augenzwinkern verfasste Sozialutopie, eine Ersetzung staatlicher Zwangsbesteuerung durch freiwillige Abgaben der Wohlhabenden und Reichen ( Nehmt, was euch gehört!), für bare Münze nehmen und sie glatt als "Anschlag" auf des Bundesrepublikaners liebstes Kind, den Sozialstaat, werten.

Für den politischen Ästhetiker ist die Reaktion der Frankfurter geradezu "typisch". Denn verschwörungstheoretische Erklärungen kennzeichnen und durchziehen "das Schubladendenken dieser Art von linker Sozialphilosophie" schon immer. Womit er den Nagel zweifellos auf den Kopf trifft.

Linke Vorteilsnahme

Hellhörig und zum Artikulieren seines Missvergnügens getrieben wird Bohrer aber anscheinend erst, weil ein weiterer "Amtsträger" der Kritischen Theorie 3.0, der Menschenrechtsprofessor (auch das gibt es) Christoph Menke, vor genau einer Woche mit einem Artikel wieder in der Wochenzeitung Die Zeit den Streit mit dem Begriff der "Wahrheit" (Wahrheit. Nicht Stil. Es geht um die gerechte Gesellschaft) an- und aufheizt.

Nimmt ein Philosoph diesen Begriff in den Mund, dann gilt es, wie der Streit erprobte Bohrer weiß, intellektuell "auf der Hut zu sein." Denn dann geht es nicht mehr um persönliche Eitelkeiten oder Animositäten, um Neid, Missgunst oder Rechthuberei, sondern um ganz irdische Güter, mithin um "Vorteilsbeschaffung", Wiedergewinnung verloren gegangenen Terrains, schlicht um kulturelle Hegemonie.

Ein höchst politisches Interesse wird still, leise und heimlich unter der Hand mit einer Norm versehen, woraus dann geschlossen wird, dass "soziale Gleichheit" herrschen soll ( Die neue Heilige Kuh). Aus dem Blick gerät nicht nur, dass nicht "Gleichheit", sondern stets "Ungleichheit" das Resultat sozialer Kämpfe gewesen ist, war und immer sein wird. Und wer einen Blick zurück nimmt, wird unweigerlich dazu gezwungen, diesen Befund bestätigen zu müssen. Der jüngste und letzte Glaube an den Stillstand der Geschichte und das Ende aller sozialen Kämpfe, Francis Fukuyamas "End of History", hat nicht mal zehn Jahre Bestand gehabt.

Es war und ist das Verdienst Nietzsches, Alexandre Kojèves und auch das von Arnold Gehlen, den Honneth schon allein wegen des Namens am liebsten auf die schwarze Liste der Aufklärung setzen möchte, diesen Wirklichkeitsbezug der Philosophie hergestellt und gegen die frommen Wünsche linkskonformistischer "Begriffsstutzigkeit" in Stellung gebracht zu haben.

Aus dem Blick gerät so aber auch die Frage, welches Verdienst denn jeder Einzelne zur Norm der "sozialen Gleichheit" beiträgt, bislang beigetragen hat oder noch beitragen will. Woraus speist sich das Recht auf ein Grundgehalt oder Grundeinkommen, gleich ob man arbeitet oder nicht, Sozialbeiträge zahlt oder nicht, Gesundheitsvorsorge betreibt oder nicht. Karl-Heinz Bohrer erinnert süffisant an die von der Französischen Revolution einst ausgegebene Losung, wovor dem die Freiheit liebenden Dichter Heinrich Heine zwar gegraust, aber das er später als deren "größtes Wort" bezeichnet hat: "Das alltägliche Brot ist das Recht des Volkes."

Es ist bezeichnend, dass derjenige, der diesen Satz einst geäußert hat, nämlich St. Just, just danach von den Revolutionären eigenhändig geköpft worden ist. Es mag das Glück der, aber auch ein Trost für die Frankfurter Philosophen und deren intellektuellen Unterstützer sein, dass diese Zeit der Vergangenheit angehört.