Tottreter: Und sie wissen nicht, was sie tun?

Fußtritte gegen Kopf und Thorax sind lebensgefährlich - und das dürfte dem Großteil junger Menschen bekannt sein, hat ein Jurist herausgefunden

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Blinde Gewalt, zum Teil motiviert von purer Lust an Gewalt, gehört zu den Auswüchsen der menschlichen Natur, die am meisten empören und am schwersten zu ertragen sind; sie setzt unweigerlich einen Gegenaffekt in Gang, der ebenfalls zur Gewalt greifen will, der Hass als erste unmittelbare Reaktion wünscht Rache und Vergeltung (die abgemilderte Form verlangt wenigstens nach Sühne). Insofern sind die Äußerungen der Politiker verständlich, die nach brutalen Taten, wie vor einigen Wochen am Bahnhof München-Solln, als ein mutiger Mann, der bedrohten Jugendlichen zur Hilfe kam und von Tritten und Stößen gewalttätiger Schläger getötet wurde, härtere Strafen für solche Fälle fordern (siehe Das Böse in der S-Bahn). Allerdings werden solche Forderungen oft auch etwas blind formuliert und allgemein. Die Forderung nach härteren Gesetzen und Strafen ist meist ein Rundumschlag, mit dem Politiker ihre Hilflosigkeit dokumentieren: Die Forderung, dass "ab 18 Jahren grundsätzlich das Erwachsenenstrafrecht angewendet werden muss", ist eine solche Formel, die konkret nicht weiterhilft (vgl. Stumpf gegen stumpfe Gewalt).

Dass man sich rechtlich aber durchaus auf das eigentliche Skandalon, die brutale Gewalt, die tödlichen Fußtritte, konzentrieren kann, darauf verweist die Dissertation eines Juristen namens Daniel Heinke, die er der Bremer Universität vorgelegt hat: "Tottreten - eine kriminalwissenschaftliche Untersuchung von Angriffen durch Fußtritte gegen Kopf und Thorax". Darin führt er laut Presseberichten den Nachweis, dass gefährliche Körperverletzungen in den letzten zehn Jahren zugenommen haben, wobei besonders "der Anteil junger Schläger, fast alle männlich, überdeutlich höher ist als deren Anteil an der Gesamtbevölkerung".

Das hauptsächliche Anliegen der wissenschaftlichen Arbeit liegt aber woanders: in Argumenten gegen die von Tätern oft vor Gericht gebrauchten Schutzbehauptung, sie wüssten nicht, was ihre Schläge anrichten. Für das Urteil des Richters ist entscheidend, ob er von Vorsatz oder Fahrlässigkeit ausgehen soll.

Heinke, der früher selbst als Staatsanwalt gearbeitet hat, hat gegen diese Schutzbehauptung in der Fachliteratur ermittelt, die klar ausweist, dass wuchtige Tritte gegen den Kopf oder gegen den Oberkörper zu lebensgefährlichen Verletzungen führen, ob mit Stiefeln, Turnschuhen oder barfuß :

"Bei nicht-tödlich verlaufenen Angriffen wird häufig fälschlich von einer geringeren Intensität der Angriffe ausgegangen. Angesichts der Empfindlichkeit der betroffenen Körperpartien Kopf, Hals und Oberkörper hängt es aber häufig nur vom Zufall ab, ob ein Tritt Knochenbrüche oder Organzerreißungen hervorruft oder "nur" schmerzhafte Hämatome verursacht. Aus rechtsmedizinischer Sicht nicht haltbar ist damit der nicht selten gezogene Schluss, dass in den Fällen, in denen keine äußerlich sichtbaren Verletzungen verursacht wurden, die Tritte auch weniger gefährlich waren."

Und Heinke ermittelte in der Wirklichkeit: Er befragte 800 junge Männern und Frauen aller Bildungsgrade zu ihrer Einschätzung der Gefährlichkeit von Fußtritten gegen den Kopf:

"90 % aller Untersuchungsteilnehmer schätzen - geschlechts- und weitestgehend auch bildungsunabhängig - einen derartigen Angriff als 'lebensgefährlich' ein. Weitere 9 % - und damit insgesamt nahezu alle Befragten - bewerten eine solche Handlung als immerhin 'sehr gefährlich'. Allein ein Drittel erklärte zudem, dass es den Tod des Opfers als wahrscheinliche Folge solcher Angriffe erwarte."

Das Wissen über mögliche tödliche Folgen von festen Tritten gegen Kopf oder Oberkörper eines wehrlosen Opfers wäre demnach kein Spezialwissen, sondern weit verbreitet. Und die Behauptung von Tätern, man sei sich über die Konsequenzen nicht klar, eine Schutzbehauptung, die von Richtern genauer denn je zu überprüfen wäre. Laut der Webseite Juraforum.de muss bei der strafrechtlichen Bewertung zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit unterschieden werden: Vielfach werde durch das Strafgericht trotz schwerster Misshandlungen ein Tötungsvorsatz des Täters nicht angenommen, weil "nicht auszuschließen (ist), dass ihm die konkrete Gefährlichkeit der Verletzungen im Tatzeitpunkt nicht bewusst gewesen ist".