Warum alle studieren sollen

In Deutschland ist unlängst eine Debatte zur "Überakademisierung der Berufswelt" entstanden, die durch Pisa und die OECD genährt wird

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Mittlerweile macht jeder zweite Schulabgänger eines Schülerjahrgangs in Deutschland Abitur. Eine Rekordzahl, die stetig wächst und durch den jüngsten Bildungsbericht der Bundesregierung, der den Übergang von dort zur Hochschule als einzig vernünftigen und wünschenswerten Weg darstellt, gewiss nicht kleiner wird. Zumal binnen eines Jahrzehnts sich die Quote derer, die ein Hochschulstudium aufnehmen könnten, nahezu verdoppelt hat.

Längst ist das Gymnasium zur neuen "Volksschule" der Nation geworden. Neubauten dafür werden allerorten hochgezogen, während der klassischen Haupt- oder Mittelschule die Schüler ausgehen und die Gemeinden vor Probleme stellen, was sie mit den leer stehenden Gebäuden anfangen sollen. Auch wenn bislang nicht jeder Abiturient gleich an die Universität wechselt und manchmal erst noch einen Beruf erlernen will, ist heute schon abzusehen, dass in absehbarer Zeit mehr als die Hälfte eines Jahrgangs ein Studium absolvieren.

Sowohl die neue Durchlässigkeit, die den verschiedenen Bildungsgängen und -systemen inzwischen eigen ist, und die auch einem bildungswilligen KFZ-Meister prinzipiell die Aussicht eröffnet, später ein Ingenieurstudium aufzunehmen, als auch die von Eurokraten und Wissenschaftsministern in Gang gesetzte Bologna-Reform, die eine Vergleichbarkeit und Gleichschaltung von Abschlüssen auf dem globalen Markt und ein schnelleres Studieren erlauben, machen es möglich. Der "Bildungswille" von Eltern wiederum, die meinen, ohne akademische Bildung habe ihr Sohn oder ihre Tochter keine Zukunft, sowie die gesellschaftliche Geringschätzung, die fachlicher Bildung und handwerklichen Berufen entgegenschlägt, tun ihr Übriges.

Begeisterung nicht überall

Doch nicht alle Akteure: Institutionen, Unternehmen und Personen, scheinen von dieser neuen "Bildungsexpansion" angetan zu sein, die dank der Initiative der OECD und ihrer Pisa-Studien das Land erfasst hat. In all ihren Ausmaßen und all ihren bildungsoptimistischen Dimensionen erinnert sie nicht zufällig an jenen "Sputnik-Schock", der in den Fünfziger- und Sechzigerjahren die Bildungspolitiker und ihre pädagogischen Handlanger erfasst und dazu geführt hatte, dass auch das Mädel mit den drei Ks (Küche, Kirche, Kinder) aus dem hintersten bayerischen Wald gymnasial gebildet wurde.

Da sind zum einen die mittelständischen Unternehmen und Handwerksbetriebe, die wegen der gefallenen Nachfrage nach einer beruflichen Bildung seitens der Schulabgänger kaum mehr geeigneten Nachwuchs und geeignete Bewerber für ihre Betriebe auf dem Arbeitsmarkt finden und entweder auf minderbefähigtes Personal zurückgreifen müssen und die Azubis in aufwendigen Nachschulungen auf das geforderte Leistungsniveau bringen müssen oder verstärkt im Ausland, und dort in den europäischen Krisenländern Spanien, Italien, Griechenland und Portugal, nach fähigen und ausbildungswilligen Leuten fahnden müssen.

Ihre Verbandsfunktionäre, und nicht nur die, haben vorsorglich schon mal eine Art Notstand diesbezüglich ausgerufen. Erst im Sommer diesen Jahres hat die "Vodafone-Stiftung" schon mal "Headhunter auf Hauptschulabgänger" losgelassen, um dort nach noch vernachlässigten, unentdeckten oder unterentwickelten Talenten Ausschau zu halten (Immerhin weist fast ein Fünftel aller Jugendlichen, die aus prekären Verhältnissen stammen oder prekär ausgebildet werden oder wurden, keinen Berufsabschluss vor).

Abstimmung mit den Füßen

Da sind zum anderen auch die Hochschulen und Hochschullehrer, die nicht wissen, wie sie mit den exorbitanten Studentenmassen - aktuell sind gut zweieinhalb Millionen Männer und Frauen an einer Hochschule eingetragen - verfahren sollen. Zumal sie es zunehmend mit mäßig qualifizierten, mitunter überforderten Studierenden zu tun haben, die weder die Voraussetzungen für die Bewältigung eines Studiums mitbringen, noch in der Lage sind, bestimmten Anforderungen und Qualitätsstandards, die ein Studium nun mal mit sich bringt, zu genügen.

Hinzu kommt, dass die Orientierungslosigkeit, die viele Studierwillige nach dem Abitur befällt, immer noch sehr hoch und die Abbrecherquote auch nach der Umstellung auf Bachelor und Master eher größer als geringer geworden ist. Noch immer verlässt ein viel zu großer Teil der Studienanfänger nach etlichen Jahren Studium die Universität ohne Abschluss - trotz eingehender und vermehrter Studienberatung, vorgeschalteter Eingangstests und -gesprächen und verstärkter Prüfungen in den Anfangsstudienjahren.

Und auch die Verweildauer, die mit dem Bachelor auf drei Jahre gesenkt werden sollte, hat sich als falsch herausgestellt. In aller Regel bleiben die Studenten vier bis sechs Jahre an der Hochschule, also viel länger als die Reformer es sich damals ausgedacht haben. Zudem hat sich das Verhältnis Bachelor-Master in sein Gegenteil verkehrt. Statt der beabsichtigten achtzig Prozent, die nach drei Jahren die Hochschule verlassen, und der restlichen zwanzig Prozent, die in zwei Jahren den Master machen sollten, beabsichtigen vier Fünftel den Master zu machen, während nur knapp ein Fünftel den Wunsch der Bildungsplaner nachkommt und der Universität vorzeitig den Rücken kehrt.

An der Praxis vorbeigedacht

Der jüngste und gut gemeinte Vorschlag des Bildungsforschers Andreas Schleicher, seines Zeichens Vizedirektor der OECD und Koordinator der internationalen Vergleichsstudie Pisa, an die Hochschulen und Hochschullehrer, sie müssten sich "auf ein vielfältigeres Spektrum von Bedürfnissen, von Fähigkeiten, von Ansprüchen einstellen" und "sehr viel flexibler ihr Angebot strukturieren", sowie die Aufforderung, "mehr Innovation, mehr Kreativität bei der Lehre" zu zeigen, auch mal ungewöhnliche Wege zu gehen und "entsprechende Abschlüsse anzuerkennen", zielt am Problem vorbei und schiebt den schwarzen Peter den Universitäten und den dort handelnden Personen und Fakultäten zu.

Denn schon jetzt kommen die Hochschullehrer nicht umhin, genauso wie ihre Kollegen an den weiterführenden Schulen schon des Längeren, Qualitätsstandards und Leistungsniveaus zu senken, erzielte Prüfungsergebnisse zu frisieren und Qualifikationen an eigentlich ungeeignete Absolventen auszugeben. Machen sie das nicht und erreichen nicht eine bestimmte Quote bei Prüfungen, Klausuren und Abschlussarbeiten, dann müssen ihre Fakultäten finanzielle Abschläge und Einbußen bei der Mittelzuweisung durch die Universitätsverwaltung hinnehmen.

Akademisierungswahn stoppen

Den Ball diesbezüglich ins Rollen gebracht hatte vor genau zwei Monaten Julian Nida-Rümelin, ehemaliger Kulturstaatsminister unter dem Kanzler Gerhard Schröder, Vorsitzender der SPD-Grundwertekommission und Philosophieprofessor an der LMU in München, mit einem Interview, das er Anfang September der FAS gegeben hatte. Darin wies er vehement auf den unter Bildungsexperten, Politikern und pädagogisch Bewegten grassierenden "Akademisierungswahn" hin, der eine Vielzahl von Berufen erfasst und die berufliche Bildung, auf die Deutschland zu recht sehr stolz sein kann, auszuhöhlen und zu untergraben droht.

Vergessen und übersehen werde dabei, dass es das duale Bildungssystem war, das mittlerweile von anderen Nationen studiert und zu kopieren versucht wird, das den Aufstieg des Landes zu Europas wirtschaftlichen potentesten und mächtigsten Nation geebnet hat. Ganz Europa schaue in der Finanz- und Arbeitskrise "neidisch auf unser Ausbildungssystem", so der Philosoph und Verfechter einer persönlichkeitsbezogenen Bildung, die auf den humboldtschen Bildungsgedanken aufbaut und sich ihnen und seinen Werten und Prinzipien verpflichtet fühlt.

Von negativer Qualität

Wenn Studenten jetzt den Azubis den Rang streitig machen, dann laufe etwas verkehrt, meinte er. Das duale System funktioniere nur, "wenn die Mehrheit eines Jahrgangs weiter in die berufliche Lehre gehe", nicht umgekehrt. Es sei ein Irrglaube, wenn man in Bildungs-, Politiker- und Regierungskreisen ernsthaft glaube, dass "alle, die studiert hätten, danach auch und in Zukunft Führungsfunktionen in Staat und Wirtschaft einnehmen" könnten oder würden.

Daher sei es an der Zeit, diese Tendenz zu stoppen und wieder mehr Menschen dazu bringen, eine Berufsausbildung zu machen. Wie er sich das vorstellt, wie dieser "Wahn" aufgehalten werden könnte, durch Hochschrauben der Anforderungen, bessere Lenkung und verstärkte Selektion vor allem und zuallererst an den Schulen, äußerte er sich, auch weil der Fragesteller ihn nicht dazu befragte, allerdings nicht. Deutschland brauche aber eine exzellent ausgebildete und qualifizierte Facharbeiterschaft, wenn sie ihre ökonomische, technologische und innovative Spitzenposition in Europa und in der Welt halten wolle. Studierten aber plötzlich alle, dann ergebe sich laut Nida-Rümelin eine neue Qualität, eine "negative nämlich.

Den Vorwurf, dass er damit die soziale Undurchlässigkeit des deutschen Bildungssystems zementiere und etwa Arbeiterkinder auf die Haupt- und Mittelschule festlege, wies der Universitätslehrer allerdings weit von sich. Gefördert gehörten naturgemäß alle Talente und Begabungen, kognitive, künstlerische und praktische. Bildung dürfe weder am Geldbeutel scheitern, noch von der sozialen Herkunft abhängen. Und was die unterschiedliche Bezahlung betreffe, die finanzielle Schere, die sich zwischen akademischen und beruflicher Ausbildung auftue, die müsse eben von der Politik neu definiert und geregelt werden, wenn es der Markt selbst nicht richten kann.

Alles ist gut

Der zu erwartete Widerspruch und bildungspolitische Gegenwind ließ nicht lange auf sich warten. Zumal die Vorhaltungen von einem Mitglied der SPD kam, die sich dem Schlagwort "Bildung für alle", dem "sozialen Aufstieg" und der "Sozialen Gerechtigkeit" besonders verpflichtet fühlt. So erklärte etwa Frau Nahles, die Generalsekretärin seiner Partei, dass es "höchst erfreulich" sei, wenn die Hälfte eines Jahrgangs studiere. Dies sei ein "unverzichtbarer Beitrag für unseren Anschluss an internationale Vergleiche." Gleichzeitig plädierte sie für "mehr Durchlässigkeit" und ein "attraktivere Gestaltung" der beruflichen Bildung.

Auch die bildungspolitischen Sprecher der SPD und der FDP, Ernst-Dieter Rossmann und Patrick Meinhardt, schlossen sich dieser Meinung an wie auch die Bundesbildungsministerin Johanna Wanka von der CDU. Alle drei betonten ausdrücklich die Gleichrangigkeit von Ausbildung und Studium. Einen "Akademisierungswahn" wollten sie nicht erkennen, zumal jeder Studierende gebraucht würde.

Schließlich äußerte sich auch Andreas Schleicher, vom Deutschlandradio dazu befragt. Er verwies auf den Arbeitsmarkt, der den Bedarf regle, sowie auf die jungen Leute, die wüssten, dass sie drei Viertel mehr verdienten, wenn sie mit einem Studienabschluss aufwarten könnten. Zudem sei die Arbeitslosenquote bei all jenen am höchsten, die nur eine drittklassige Ausbildung in der Tasche haben. Immerhin gab er zu, dass der Bedarf nicht nur bei akademisch, sondern auch bei beruflich ausgebildeten Spitzenkräften steige. Die "relativen Gewichte" verschöben sich. Schon deswegen müsse die Wirtschaft bei der Bezahlung Zugeständnisse machen, um dieses relative Ungleichgewicht zu beheben.

Der Arbeitsmarkt bestimmt

Jürgen Kaube, verantwortlicher Redakteur für Wissenschaft und Bildung und Leiter des geisteswissenschaftlichen Ressorts der FAZ, ließ es sich daraufhin nicht nehmen, über die Ansichten des "Bildungsexperten" Schleicher, für den dieser, seit er die Pisa-Studien koordiniert, landauf, landab gehalten wird, ausgiebig zu spötteln. Der Frage nach dem Verhältnis (oder der Quote) von akademischer und beruflicher Bildung sei er elegant ausgewichen, indem er sie einfach an den Arbeitsmarkt und dessen Bedarf delegiert habe. Genau dieses Verhältnis stünde aber zur Disposition.

Das Problem, das Nida-Rümelin aufgeworfen habe, sei doch gewesen, ob eine Erhöhung der Akademikerquote jene Spitzenkräfte hervorbringe, die sowohl die OECD als auch die Wirtschaft und der "Bildungsexperte" Schleicher verlangen. Längst zeige die Anstellungspraxis, dass Akademiker zunehmend Absolventen mit niederen Bildungsabschlüssen aus ihren angestammten Berufen verdrängten. Schließlich trügen Vergleiche und Statistiken von und mit Entlohnungen für geleistete Arbeit wenig zur Aufhellung dieses Sachverhalts bei. Ein Abiturient, der den heimischen Betrieb übernimmt, oder ein Fernseh- oder Fußballstar werden ein Vielfaches mehr verdienen wie jener Studiosus, der sich nach seinem Abschluss und Verlassen der Akademie von Projekt zu Projekt bewege, von einer prekären Beschäftigung zur nächsten.

Konstruktion von Wirklichkeit

Mit der Unterscheidung "höherwertig" und "höherrangig" hingegen habe der "Bildungsexperte" anscheinend wenig am Hut. Darüber bestimme seiner Ansicht nach der allmächtige und allgegenwärtige Arbeitsmarkt, der das schon entsprechend honorieren werde. Und mit der Qualität der Bildung, von Qualitätsmerkmalen und intellektuellen Leistungen, die über den beruflichen Verwertungsbedarf der Wirtschaft hinausgehen, etwa von literarischer Bildung, Persönlichkeitsbildung oder künstlerischen Wirken, offenbar ebenso wenig.

Entweder hat er davon noch wenig gehört oder er hält sie nicht wirklich für relevant. Dabei sollte ein "Bildungsexperte" eigentlich wissen, dass sogar die Collegeausbildung in den USA, häufig viel geschmäht, extrem viel Wert auf eine angemessene charakterliche und/oder moralische Bildung legt. Erst nach einer vierjährigen Allgemeinbildung beginnt die fachliche Spezialisierung mit dem Masterstudium.

Näheren Kontakt zur "sozialen Wirklichkeit" scheine der OECD-Master auch nicht zu unterhalten. Statt sich mit der Lebenswirklichkeit auseinanderzusetzen, schaffe der OECD-Experte laut Jürgen Kaube eine Illusion, indem er den jungen Leuten einrede, nur wer ein Studium mache, sei intelligent. Alle anderen, die das nicht machten, und sich für eine berufliche Ausbildung entschieden, blieben dumm.

Und ich Dummkopf dachte mal, die Zeiten des Sozialen und/oder Radikalen Konstruktivismus seien längst vorbei. In der Bildungspolitik hält er sich aber ganz offensichtlich noch recht gut am Leben.