Hoffnung in Tunesien mit neuer Verfassung

Die Verfassung bekräftigt zwar den Islam als Religion im Land, lehnt aber die Scharia ab und setzt auf Gleichberechtigung und Gewissensfreiheit

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Drei Jahre nachdem mit der Revolution gegen die Diktatur Ben Ali in Tunesien der sogenannte Arabische Frühling ausgelöst wurde, ist am Montag in der Nationalversammlung in Tunis die neue Verfassung des Landes paraphiert worden. Damit könnte sich Tunesien, anders als andere Staaten der Region, auf einen sehr steinigen Weg zu einem zivilen Staat gemacht haben.

Während einer feierlichen Zeremonie in der Nationalversammlung setzten Präsident Moncef Marzouki, Regierungschef Ali Larayedh und der Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung, (ANC) Mustafa Ben Jafaar, ihre Unterschriften unter die am Sonntag verabschiedete Verfassung. Es handele sich um einen "außerordentlichen Tag", an dem der "Sieg über die Diktatur" gefeiert werde, sagte Marzouki. Er fügte aber an, dass Land müsse noch einen langen Weg beschreiten, bis die nun verankerten Werte zum "Teil unserer Kultur" werden.

"Die Geschichte und die kommenden Generationen werden sich mit großem Stolz an diesen Tag erinnern", hatte Ben Jaafar am späten Sonntag vor der Abstimmung im Übergangsparlament verkündet. Der ANC-Präsident nannte die neue Verfassung, die als vorbildlich in der arabischen Welt gilt, die "Verfassung der Zweiten Republik". Erstmals seit der Unabhängigkeit 1956 wurde demokratisch in dem nordafrikanischen Land eine Verfassung verabschiedet.

Der Politiker des sozialdemokratischen "Demokratischen Forums für Arbeit und Freiheit" (FDTL) machte deutlich, dass es sich um einen Spagat zwischen den regierenden Islamisten und der säkular gesinnten Opposition handelt: "Die Verfassung ist zwar nicht perfekt, aber sie beruht auf Einigkeit", sagte Ben Jaafar. Tatsächlich wurde die benötigte Zweidrittelmehrheit deutlich überschritten. 145 Parlamentarier hätten für die 146 Artikel stimmen müssen, die zuvor in der Nationalversammlung verlesen worden waren. Sogar 200 stimmten für den neuen Verfassungstext, nur 12 stimmten dagegen und vier enthielten sich. Frühere Errungenschaften würden damit bewahrt und "das Fundament für einen demokratischen Staat" gelegt, feierte Jaafar die Abstimmung.

Dass in einer Verfassung eines Landes mit fast durchgängig muslimischer Bevölkerung Gewissensfreiheit und Gleichberechtigung verankert wurde, ist richtungsweisend. Im Parlament sollen deshalb zukünftig auch genauso viele Frauen wie Männer sitzen. Das Land hat das Parlament gestärkt und Abstand vom Präsidialsystem genommen. Im "freien, unabhängigen und souveränen Staat", wie er im ersten Artikel definiert wird, ist zwar der Islam die "Religion, das Arabische seine Sprache und die Republik seine Staatsform", doch der Scharia wurde eine Absage erteilt, wie es die Islamisten schon 2011 angekündigt hatten. Das islamische Recht wird nicht als Rechtsquelle benutzt. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hofft deshalb, dass drei Jahre nach der "Arabellion" erneut von Tunesien ein Signal ausgeht. Er sprach von einem "historischen Meilenstein" und einem "Modell für die anderen Völker, die nach Reformen streben".

Der Weg zu einer Verfassung, der aus Tunesien einen Rechtsstaat machen soll, in dem die Gewaltenteilung geachtet wird, ist aber lang und steinig. Doch der Sonntag war für die Zukunft des Landes auch entscheidend, da der designierte unabhängige Ministerpräsident Mehdi Jomaâ seine Übergangsregierung Präsident Marzouki vorgestellt hatte. Der bisherige Industrieminister hatte eine Liste mit 21 Namen seines Expertenkabinetts vorgelegt. Die unabhängigen Kandidaten sollen das Land bis zu den Wahlen regieren, die noch dieses Jahr stattfinden sollen. Die Nationalversammlung soll die Regierung nun so schnell wie möglich bestätigen.

Zwar hatte die islamistische En-Nahda-Partei im Oktober 2011 die Wahlen gewonnen und wurde mit 89 von 217 Sitzen stärkste Partei, doch willigte sie nach Morden an Oppositionspolitikern im vergangenen Jahr ein, die Regierungsverantwortung im Rahmen des nationalen Dialogs wieder abzugeben. Die Ermordung des Sprechers der "Volksfront für die Verwirklichung der Revolutionsziele", Chokri Belaïd, im Frühjahr und von Mohamed Brahmi von der "Volksbewegung" im Sommer wurden der En-Nahda mit angelastet. Denn sie habe die radikalen Salafisten nicht im Griff, welche die Morde verübt haben sollen. Das Land hofft nun, nicht nur die politische, Krise sondern auch die Wirtschaftskrise überwinden zu können.