Russen, Juden, Mafia und die Gewalt in Berlin

Der Müll, die Stadt und der Tod: Dominik Grafs atemberaubendes Kriminalepos "Im Angesicht des Verbrechens"

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Ein ungeheurer Film, acht Stunden lang, aufregend, spannend und bewegend: Ein Polizeifilm und auch ein Gangsterfilm, in dem Kriminalität manchmal Züge von selbstmörderischen Akten trägt. Genrefilm. Einwandererdrama. Familiengeschichte. Es gehört zu den extrem erstaunlichen Aspekten von "Im Angesicht des Verbrechens", dass das Fernsehen so etwas überhaupt zulässt: Ein zehnminütiges Verweilen an Nebenschauplätzen, ständige Untertitel. Zugleich ist dies ein Stadtportrait: Das Berlin, das Graf zeigt, ist ein Berlin der Neureichen: dicke Wagen, kleine Leute, die aber dauernd mit 500-Euro-Scheinen wedeln. Der irr gewordene Kapitalismus. Und verdienen tun daran die kleinen Kriminellen und die dicken Gangster in den Villenvierteln. Ein Fernsehdrama aus den Rändern, an denen der Gegensatz von Zivilisation und Barbarei verschmilzt. Ein Hauch von "Untergang des Abendlandes"..

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(Bild: ©ARD/Julia von Vietinghoff)

"My theory was that the readers just thought they cared about nothing but the action." Raymond Chandler

Die Stadt ist der Abgrund. Sie ist auch das Paradies. Himmel und Hölle, das trifft sich in Dominik Grafs "Im Angesicht des Verbrechens" so wie Kinoanspruch und Fernsehrealität. Ursprünglich als Achtteiler für WDR/Arte produziert, läuft die Serie nun dort als Zehnteiler, zuerst auf arte ab heute abend. Man darf hoffen, dass dies die Zuschauer annehmen und gespannt sein, wie es klappt.

Denn zweifellos gehört "Im Angesicht des Verbrechens" am Ende ins Kino. Dort, das zeigte sich bei der Premiere im Rahmen des Forums der Berlinale, funktioniert sie blendend - ein Ereignis, dessen Intensität sich die Zuschauer nicht entziehen konnten, gerade weil hier die üblichen Maßstäbe auch zeitlich gesprengt werden, und man zweimal je knapp fünf Stunden im Kino saß. Das ist auf TV-Ebene vergleichbar nur mit dem nun bald 20 Jahre zurückliegenden "Die zweite Heimat" von Edgar Reitz, der einen ähnlichen Sog entwickelte.

Für Quoten interessiert sich Graf dabei nicht: "Quotenhits haben mit den wahren Schönheiten von Filmen absolut gar nichts zu tun. Der Stoff von Rolf Basedow war grandios, wir haben versucht, ihn bestmöglich umzusetzen, der Film hatte unter vier Millionen Zuschauer. Hätte man ihn deshalb nicht machen sollen? Ich bin stolz auf "Eine Stadt wird erpresst". Sollen wir jetzt alle "Schwarzwaldklinik" drehen, weil die Quotenpäpste die Zuschauer womöglich nicht mehr beunruhigen wollen? Vielleicht ist auch der Traum vom Thriller als letztes echtes Populärfilmreservat in Deutschland tatsächlich ausgeträumt, wer weiß?" Graf spricht von den zwei Gesichtern des öffentlich-rechtlichen Fernsehens:

"Es gibt Leute, die kämpfen wirklich an vorderster Front um das Bestmögliche. Man glaubt gar nicht, wie ausdauernd und wie stark manchmal und mit was für einem Willen, das Richtige zu tun. Ich glaube, in manchen Funktionären lebt beides, der Filmfan und der Apparatschik, nebeneinander. Man muss das bessere Ich des TV herausfordern - immer wieder. Aber das deutsche Fernsehen war natürlich mal mit das Beste der Welt, so lange, bis Zyniker es auf Teufel komm raus in Pfeilrichtung Quotenstadel versuchten umzubauen. Diese Entwicklung muss revidiert werden, sonst schafft sich das TV ja selbst ab."

Im Kino drängt sich der Vergleich mit ganz Großem auf: Coppolas "Der Pate" liegt schon deswegen nahe, weil auch dies eine Mafiageschichte ist. Aber auch Bertoluccis "1900": durch den epischen Ton, in dem hier erzählt wird, und durch die Ruhe; weil sich Graf und sein Drehbuchautor Rolf Basedow Zeit lassen für Ellipsen, für Exkurse, und ihrer Geschichte so Raum geben, in die Breite zu schweifen, sich von sich selbst zu entfernen - und genau auf die Art zeigt sich das Leben selbst im Kinosaal.

Berlin war ein Sumpf

"The police thriller is the only modern form of tragedy possible." Jean-Pierre Melville

Es sind fraglos unter anderem gerade diese Exkurse, in denen sich Grafs Meisterschaft zeigt: Das Treffen etwa von einem West-Berliner Altgangster und einem ehemaligen Sowjetgeneral, dessen Untergebene sich gerade Berlin unter den Nagel reißen: Sie reden über die alten Zeiten, und, wie bei der Madeleine in Prousts berühmtem Roman über die verlorene Zeit, erinnert man sich plötzlich wieder, dass Berlins Westteil schon in den Zwanzigern wegen der vielen russischen Emigranten "Charlottengrad" hieß und daran, dass Berlin seinen Namen ursprünglich durch den russischen Namen für das Wort Sumpf bekam. Denn Berlin war ein Sumpf, und Graf zeigt, dass es das in gewisser Weise bis heute ist.

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(Bild: ©ARD/Julia von Vietinghoff)

In einer anderen jener in sich geschlossenen Neben-Episoden trifft der von Max Riemelt gespielte Held, ein junger Polizist namens Gorsky, der in einer Spezialeinheit die Russenmafia jagt und nebenbei immer noch den Mord an seinem Bruder, der selbst deren Mitglied war, aufklären will, die ehemalige Freundin seines Bruders. Sie lebt im fernen deutschen Osten ist dort verheiratet und will von der Erinnerung nichts wissen. Aber die hat sie noch ganz im Griff. Und wie Graf und seine junge Darstellerin in einer einzigen Szene in wenigen Minuten ihr ganzes Leben und den ganzen Menschen erzählen, ist einfach großartig. Oder die Figur einer jungen Barfrau in einer Russendiskothek, die sich einerseits in einen Gangster verliebt hat, andererseits um die Gefahren des Milieus weiß - in wenigen großartig gespielten und inszenierten Szenen wird sie ganz prägnant.

Nicht "human factor", sondern Überschreitung

Nicht weniger meisterlich sind die Actionszenen. Man hat so etwas auch im deutschen Kino lange nicht gesehen: Überfälle, Razzien, Schlägereien, Verfolgungsjagten.. Das ist lustvoll und doch nie Selbstzweck. Aber Graf weiß, dass es im Kino eben am Ende nicht um Plots und "human factor" geht, sondern nur um das, was man sieht, und dann um das, was man auch noch sieht, um visuellen Mehrwert und die Kunst der Überschreitung im Sinne Batailles, um Verschwendung im ästhetischen Sinn. Jede Folge hat eine solche Szene, und fast glaubt man, dass der Regisseur kleine Referenzfilme für sie im Kopf hatte, ob "Heat", "Seven", "Trafic" oder auch "Wenn die Gondeln Trauer tragen" und "Der dritte Mann" - da ist Grafs Filmemachen grandioses Bewegungskino.

Zugleich ist das alles eher am europäischen Kino der 1970er orientiert - an Rosi, Verneuil und anderen Franzosen - als an den coolen amerikanischen Polizeifilmen unserer Gegenwart. Ein Kino, das schrill ist, grob, manchmal vulgär und mitunter kolportagehaft, weil genau diese Elemente eben auch zum Epischen gehören wie zur Kunst der Überschreitung.

Spannend, trivial und lebensnah, bitterböse und unterhaltsam

Es sind viele Filme, die einem in den Sinn kommen bei diesem Regisseur, der unter anderem auch einer der produktivsten in Deutschland ist, und - trotz allem Wohlwollen, das ihm von Teilen der Kritik und des Publikums entgegengebracht wird - immer noch unterschätzt wird. In anderen Ländern als unserem, auch in Filmdingen so merkwürdig verkrampften, würde man es einem wie Graf leichter machen, jenseits untragbarer Kompromisse fürs Kino die Stoffe zu drehen, die er wirklich drehen möchte. Man würde es ihm zugleich allerdings schwerer machen, sich im Fernsehen zu verstecken, und man muss das Fernsehen nicht unterschätzen, um den Eindruck zu haben, dass Graf genau dies, wie andere auch, gelegentlich tut.

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(Bild: ©ARD/Julia von Vietinghoff)

"Der deutschen Kinolandschaft fehlt seit Jahrzehnten das Vertrauen, ihre brennendsten Themen ebenso populär wie intelligent und knallhart anzupacken", meint Graf.

"Die Möglichkeit, Gegenwart, Politik, gesellschaftliche Entwicklungen spannend, trivial und lebensnah, bitterböse und unterhaltsam gleichzeitig zu behandeln - diese Chance kriegt man nur noch im Rahmen des Thrillers."

Seit fast 30 Jahren gilt der 1952 geborene Graf als einer der besten deutschen Regisseure. Filmisch war er seiner Zeit oft voraus. Schauspieler, die einmal mit ihm zusammengearbeitet haben, berichten nur Gutes, manchen Produzenten hingegen gilt Graf, der akribisch, auch in den scheinbar unwesentlichsten Dingen sorgfältig und eben kompromisslos, um Qualität bemüht ist, als zu teuer.

Trotzdem Graf viele Preise gewonnen hat und jährlich mindestens einen Film dreht, ist er seltsam unbekannt in einem Land, das gegenwärtig mit guten Regisseuren immer noch allzu rar bestückt ist. Es gehört dabei zu Grafs größeren Tugenden, dass es ihm gelingt, auch noch das scheinbar konventionellste Format, Folgen von Krimi-Reihen wie "Tatort", "Sperling" oder "Polizeiruf" etwa, die man sämtlich auch nicht unterschätzen sollte, nicht nur zu Höhepunkten ihrer Möglichkeiten zu führen, sondern aus ihnen immer richtige Dominik-Graf-Filme zu machen, die in Stil, Erzählweise und Geschichten von dem geprägt sind, was für diesen Regisseur typisch ist.

Eine Welt, die für Freiheit wenig Sinn hat

Im Zentrum von "Im Angesicht des Verbrechens" steht die Geschichte einer Familie, ihres Schicksals und ihrer Verzweigungen. Verbrechen und Strafe gibt es in ihr, Krieg und Frieden, Polizisten und Gangster. Es ist auch wichtig daraufhinzuweisen, dass diese Familie deutsch ist, aber aus Lettland emigriert, dass sie jüdisch ist und nicht nur einst verfolgt wurde, sondern im Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion auf deren Seiten stand - große Geschichte im Kleinen, auch dafür ist Grafs Film ein Musterbeispiel. Der Film handelt am Ende in vielen seiner Figuren davon, worum es immer geht: Wie sich ein Einzelner und seine Freiheit behaupten können in einer Welt, die für Freiheit wenig Sinn hat und den Platz des Einzelnen vor allem über seine Herkunft und seine Gruppe definiert.

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(Bild: ©ARD/Julia von Vietinghoff)

Durch diese Familie und in ihr wird ein Stück aus dem Unterleib der Stadt Berlin und ihrer Gegenwart erzählt, das ganz wahr ist und treffend, und das doch so noch nie erzählt wurde. Bewundernswert ist, wie wuchtig und dicht das alles ist: An Altmans "Short Cuts" erinnert Grafs Kunst der Vernetzung, seine Dutzenden von Cliffhangern, er arbeitet zwischendurch mit Splitscreens und versteht es jederzeit, den Überblick zu behalten und ihn auch seinen Zuschauern zu geben. Ein Meisterwerk des Kriminalfilms.