"Ich bin das ästhetische Konzept - aber ich habe keines."

Michael Haneke gegen den verteufelten Medien-Mainstream

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Seit seinem ersten Kinofilm "Der siebte Kontinent" ist Michael Haneke dafür bekannt, es dem Kinopublikum nicht leicht zu machen. Die Auswahl seiner Themen zeugt oft von einer düsteren Weltsicht; aber auch formal stäubt sich der Österreicher dagegen, es dem Zuschauer leicht zu machen. Inhaltlich längst nicht mehr so radikal wie "Der siebte Kontinent", in dem es um einen Familiensuizid ging, versucht Haneke in "Das weiße Band" den Hebel abermals an der Erwartungshaltung der Zuschauer anzusetzen.

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"Das weiße Band" (Bild: X-Verleih)

Seine Geschichte ist profan: Kurz vor Beginn des zweiten Weltkrieges ereignen sich in einem Dorf irgendwo in Norddeutschland seltsame Un- und Todesfälle: Der Arzt stürzt mit seinem Pferd über ein in seinen Weg gespanntes Drahtseil, eine Bäuerin bricht durch den morschen Fußboden einer Mühle und verliert ihr Leben, der Sohn des Barons wird von unbekannten halt tot geschlagen und selbiges geschieht dem behinderten Kind der dörflichen Hebamme. Daneben finden sich Alltäglichkeiten und Trivialitäten: Der Dorflehrer, der der erinnernde Erzähler des Films ist, verliebt sich in das Kindermädchen des Barons, der längst verwitwete Arzt wendet sich, aus dem Krankenhaus heimgekehrt, von seiner langjährigen Geliebten, der Hebamme ab. Der Dorfpfarrer züchtigt seine Kinder. Der Sohn der toten Müllerin ruiniert auf dem Dorffest ein Kohlfeld des Barons. Dieser wiederum wird von seiner Frau verlassen. Und so weiter.

Eine ganz (un)normale (Krimi)Geschichte

Was Michael Haneke in "Das weiße Band" erzählt, ist die subjektive Rekapitulation von Ereignissen kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges, die nur durch den Vorgang des Erzählens selbst in einen Zusammenhang gesetzt werden und sich deshalb vielleicht "Kriminalerzählung" nennen lassen. Es sei gleich vorweg gesagt, weil das bei Haneke mittlerweile genauso wenig ein Geheimnis ist, wie es eines bei Atonioni war: Die Erzählung bleibt offen. Und es ist diese Offenheit der Erzählung, aus der der Film sein - um den Regisseur zu zitieren - "verwirrendes Potenzial" zu beziehen versucht.

Das Verfahren, das Haneke bereits bei "Das Schloss" (dort jedoch von Kafka selbst übernommen), "Wolfzeit" oder "Caché" noch sehr produktiv eingesetzt hat, scheint bei "Das weiße Band" zu versagen. Die Ereignisse selbst sind zu profan und zu sporadisch präsentiert, so dass die vermeintliche Kriminalerzählung schnell zum Hauptanliegen des Plots wird. Hier entstehen in abwechselnder Reihenfolge Assoziationen an die zahlreichen Filme um böse Kinder, an Bergmans "Fanny und Alexander" und immer wieder auch an David Lynch, denn gerade der verstand es wie kein zweiter, die Suggestion eines Genrefilms dazu zu nutzen, dessen Regeln qua Karikatur zu pervertieren, um den Zuschauer so zur Reflexion dieser Regeln zu zwingen. Seine Serie "Twin Peaks" zeigt dies anhand einer Kriminalerzählung in einer dörflichen Gemeinschaft; "Das weiße Band" eifert diesem Beispiel oft erkennbar nach - das jedoch in Schwarzweiß.

Authentizität zur Dekonstruktion?

Das zu erwähnen soll keineswegs eine qualitative Kritik an "Das weiße Band" sein. Die Entscheidung in Schwarzweiß zu drehen folgt seit der Verfügbarkeit von Farbfilmmaterial meistens einer ästhetischen Strategie. Haneke erläutert nach seinem Film in einem Gespräch mit dem Regisseur Christoph Hochhäusler, dass er die Wahl der Farbe ebenso wie die narrative Offenheit und die Entscheidung, die Geschichte aus dem Off kommentieren zu lassen, als Brechung der filmischen Narration und damit als Hinweis auf die Problematik filmisch zu erzählen eingesetzt hat. Diese Brechung durch Verweis aufs Filmische soll dem Zuschauer jedoch nicht bloß auf die Selektivität des im Film präsentierten verweisen (wenn "Das weiße Band" ein Bild zeigt, muss er alle anderen dafür ignorieren), sondern damit soll abermals unsere durch den von Haneke verteufelten Medien-Mainstream (er äußerst sich abwertend über das allzu glatte Hollywood-Erzählen und schimpft mehrfach auf das "dumme Fernsehen") verstellte Blickweise unterlaufen werden.

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"Das weiße Band" (Bild: X-Verleih)

Das ist natürlich leicht zu erreichen und wirkt ein wenig doppelzüngig, wenn "Das weiße Band" alle Zutaten eines Kriminalfilms in einem Topf wirft aber eben das Salz, das solch eine Suppe bräuchte, um Krimi zu sein, weglässt. So weit ist selbst Lynch in seinen absurdesten Kriminalerzählungen nicht gegangen. Die ästhetische Dekonstruktion, die sich hinter den künstlerischen Verfahren Schwarzweiß, Off-Erzählung, narrative Offenheit usw. verbirgt, kann so ernst dann auch nicht gemeint gewesen sein. Immerhin beschreibt Haneke im Zuschauergespräch, wie sehr er beispielsweise Kameratricks, wie die sichtbare Veränderung des Fokus und ähnliches ablehnt, weil sie den Zuschauer aus der Erzählung des Films heraus reißen.

Da scheint die Frage, was er denn nun mit den in "Das weiße Band" eingesetzten Verfahren der Film-Verdeutlichung denn nun eigentlich beabsichtigt hat, durch aus gerechtfertigt: Den Zuschauer auf das Sosein des Films aufmerksam machen - oder ihn vielleicht doch nur hinters Licht führen, damit die Pointe des Films glückt ... denn obwohl beispielsweise "Schwarzweiß" vom Zuschauer mit "Künstlichkeit" assoziiert wird, ist es doch häufig auch bei Dokumentarfilmen im Einsatz, die damit die Seriosität ihres Berichtens zu unterstreichen versuchen, erst recht, wenn sie historisches Material und dieses ganz ohne Soundtrack präsentieren - wie Haneke.

Karge Bilder

Bereits angesprochener David Lynch macht sich seit Beginn seiner Karriere einen Prinzip daraus Filme zu drehen, die sich einer allzu leichten Verständlichkeit entziehen und derartig große Lücken in ihren Erzählungen enthalten, dass sich der Zuschauer keinen eindeutigen eigenen Reim darauf machen kann. Es ist ein zentraler Wesenszug von Kunst, den Zuschauer zur Interpretation anzuregen. Das kann sie jedoch auch mit geschlossenen Formen erreichen, indem sie Diskussionswürdigkeit über ihr Sujet oder über die verwendeten Formalästhetiken erzeugt.

Das weiß auch David Lynch, der seine Erzählungen nicht bloß offen lässt, um daraus die Vieldeutigkeit seiner Stoffe zu erreichen, sondern sie zudem anfüllt mit Bild- und Ton-Tricks, die in dieselbe Kerbe schlagen. Manchmal mal erzählt er sogar geschlossen und konzentriert sich vollständig auf seinen Plot und dessen Präsentation: "A Straight Story" war in dieser Hinsicht programmatisch.

Haneke ist ton- und bildästhetisch hingegen eher ein nüchterner Künstler, der darauf verzichtet fantastische Elemente zur Verklausulierung seines Plots zu zeigen. Er deutet sie manchmal lediglich an. Das hat sich immer wieder als großer Gewinn erwiesen, wenn er etwa in seinem Film "Wolfzeit" von einem Weltuntergang erzählt, den er nie zeigt, oder in "Caché" eine unheimliche Beobachterinstanz einfügt, die gar nicht existieren kann. "Das weiße Band" verzichtet aber wie die meisten seiner Filme völlig auf solche Elemente und rekrutiert sein "Verwirrungs"-Potenzial allein aus der Erzählung und ihrer Offenheit.

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"Das weiße Band" (Bild: X-Verleih)
Aussageverweigerungsrecht

Dass sich diese Erzählung mit Off-Kommentar präsentiert, damit rhetorisch und funktional eine "Figur größerer Glaubwürdigkeit" präsentiert und sich zudem dem literarischen Genre der Biografie annähert, unterstreicht die Bemühung in gewisser Weise unfilmisch zu sein, noch stärker. Haneke konstatiert sich oft genug als Autorenfilmer und das mit einem Akzent auf dem "Autor", der vorgibt, sich selbst aus der Erzählung heraushalten zu wollen und zu können: "Ich bin das ästhetische Konzept - aber ich habe keines", sagt er einmal in der Diskussion mit Hochhäusler und man bekommt den Verdacht, dass er diese Neutralität lediglich herbeizureden wünscht.

Wie Lynch verweigert er Antworten auf Fragen nach der Bedeutung - ein Zug, der die Postmodernität des Erzählens unterstreicht: Der Autor ist auch nur ein Interpret der Geschichte - und keineswegs jemand, der deren wahre Bedeutung kennt. Demzufolge lehnte Haneke jede Frage zur Story von "Das weiße Band" und jeden Kommentar zu ihm von Hochhäusler oder dem Publikum präsentierten Interpretationsansätzen ab. Er geht folgerichtig soweit, seine eigene Intention für den Film nicht offen zu legen. Das ist sein gutes Recht als Künstler, erscheint andererseits vor dem Hintergrund, dass er stets vorgibt aus (s)einer besonders realistischen Sicht auf die Welt zu seinen Stoffen zu gelangen, ein wenig arrogant, wenn die Fragen zum Kern haben, welche Sichtweise der Welt er in "Das weiße Band" denn eigentlich präsentiert. Sein Film wirkt zu "dokumentarisch", zu "realistisch", um nicht auch eine Aussage des Autors präsentieren zu wollen.

Spiegelhypothesen über Schuld

Natürlich ist die Situierung der Erzählung von "Das weiße Band" an den Vorabend des Ersten Weltkriegs kein Zufall. Und aus der Tatsache, dass sich im Film trotz aller Bemühungen kein Schuldiger finden lässt, ließe sich daraus ebenso wie aus der seltsamen "Multikulturalität" des Örtchens, in dem Bayern, Brandenburger, Hamburger und Polen (alle zumindest am Zungenschlag als solche erkennbar) ein Zuhause zu finden versuchen, Bedeutung herleiten. Letztlich sind die von einer Zuschauerin gestellte Frage, für wie böse Haneke Kinder halte und die kurz darauf folgende eines offenbar englischstämmigen Zuschauers, ob das nicht die Generation sei, die zwanzig Jahre später unter Hitler weiter morde, vielleicht ein und die selbe. Diese Analyse hatte Siegfried Kracauer schon in seinem Filmbuch "Von Caligari zu Hitler" in den 1940er Jahren angestellt und im Film der Weimarer Republik einen Spiegel der Gesellschaft gesehen, in dem sich bereits der kommende Faschismus zeigt.

Haneke präsentiert stets einen Blick auf "die Realität", deren in seinen Filmen gezeigte Facetten er zumeist zu verachten scheint. Nicht erst seit "Funny Games" instrumentalisiert er seine Zuschauer dazu, diese seine Weltsicht zu bestätigen, indem er immer wieder mögliche Schuldige vor dem Objektiv seiner Kamera positioniert, ohne ihnen jedoch dieses eindeutige Etikett anzuheften. Wenn der Zuschauer selbst auf den Schuldigen kommt, wirkt die Erkenntnis für ihn umso wahrer - Gerichtsplädoyers verfahren nicht anders.

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"Das weiße Band" (Bild: X-Verleih)

War der Schuldige in seiner kulturpessimistischen "Vergletscherungstrilogie" ("Der siebte Kontinent", "Benny’s Video" und "Funny Games") noch ganz profan in "den Medien" und der durch sie "emotional vergletscherten Gesellschaft" zu suchen, so zeigt er sich in jüngeren Werken Hanekes (das Remake von "Funny Games" einmal ausgenommen) nicht mehr so klar. "Das weiße Band" könnte möglicherweise eine historische Analyse sein; es könnte jedoch auch eine als solche getarnte Kritik an der kontemporären Gesellschaft darstellen. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass ein historischer Stoff trotz zeitlicher Distanz und inhaltlicher Überzeichnung die Gegenwart meint.

Man wird mit "Das weiße Band" und den Gedanken dazu also allein gelassen und es entsteht der Verdacht, dass es doch eher fremde Gedanken sind, die sich da ganz subtil und Neutralität vorgebend, im Kopf breitmachen wollen. Dieser Verdacht wird durch die Neutralitätsbekundungen des Künstlers Haneke nur noch weiter genährt, weil sein Film selbst einfach nicht trickreich genug ist, um ein grundsätzlich offenes und damit vieldeutiges Werk zu sein. Wie subtil diese Sinndeponierung ist, zeigt sich schon daran, dass die Weigerung Hanekes seine Meinung zu äußern so sehr mit dem postmodernistischen Autoren-Rückzug verwechselt wird, dass er vom Publikum dafür mehrfach mit Applaus bedacht wird. Letztlich könnte es damit aber auch seine eigene Ratlosigkeit beklatscht haben.

Die Podiumsdiskussion mit Haneke zum Anschauen: hier, hier und hier.