"Kein Unglück, sondern ein Massaker"

Erdogan sieht sich nach dem Minen-Unglück neu aufflammenden Protesten gegenüber

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Nach dem Erfolg der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP bei den türkischen Parlamentswahlen war es ruhig um die Protestbewegung in der Türkei geworden, die im letzten Jahr Ministerpräsident Erdogan herausforderte. Auch den Machtkampf mit der Gülen-Bewegung schien die türkische Regierung für sich entschieden zu haben. Zahlreiche Staatsanwalte und Polizisten, die gegen den Erdogan-Clan wegen Korruption ermittelten, waren versetzt worden.

Und nun gehen wieder tausende Menschen in türkischen Städten auf die Straße und liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei. Die ging in der Hauptstadt Ankara gegen 3.000 bis 4.000 Demonstranten vor, die wegen des Grubenunglücks protestierten. Dabei setzten die Einsatzkräfte Tränengas und Wasserwerfer ein. Einige Demonstranten hatten zuvor Feuerwerkskörper in Richtung Polizei geworfen. Auslöser der erneuten Unruhen ist das Minenunglück von Soma vom 13. Mai 2014, bei dem über 300 Menschen gestorben sind.

"Mord an den Arbeitern“

Dass ein Minenunglück eine Protestbewegung anheizt, haben sich vor allem Erdogan und sein engster Mitarbeiterstab selbst zuzuschreiben. Sie haben nach dem Unglück so agiert, wie man es von ihnen kennt: Ohne auch nur einen geheuchelten Anflug von Selbstkritik erklärte Erdogan, solche Unglücke passieren nun mal und es gebe sie überall auf der Welt; die Bergleute seien einen schönen Tod gestorben.

Solche Statements wären vielleicht vor einigen Jahren noch kommentarlos hingenommen worden. Doch jetzt zeigt sich, dass die Proteste im Gezi-Park und am Taksim-Platz Teile der türkischen Gesellschaft verändert haben. Erdogans Äußerungen trieben auch Menschen auf die Straße, die bisher den Protesten ferngestanden hatten und die sogar noch bei den letzten Wahlen für die AKP gestimmt haben. In dieser Situation finden die Parolen linker Gruppen Gehör, die nach der Explosion in der Mine erklärten: "Das war kein Unglück – das war ein Massaker."

Ihre Argumentation scheint vielen plausibel.

"Dieser Mord an den Arbeitern ist eine Folge der Privatisierung, verantwortlich ist einzig und allein der türkische Staat. Der türkische Staat bietet seit Jahren Arbeit ohne Arbeitsschutz an, damit das Kapital weiter wächst."

Am Pranger steht nicht nur Erdogan

Das System Erdogan steht heute für ein wirtschaftsliberales System, für das die Kapitalverwertung erstes Gebot ist. Zudem bemäntelt das Regime der AKP-Partei ihre turbokapitalistische Politik mit islamistischer Rhetorik und war dabei, wie die Wahlergebnisse zeigten, bisher sehr erfolgreich.

Doch die Privatisierungspolitik und den Wirtschaftsliberalismus hat die AKP-Regierung auf die Spitze getrieben, aber nicht erfunden. Beteiligt waren daran auch sämtliche Regierungen in den letzten 35 Jahren. Die Grundlage dafür lieferte der Militärputsch von 1980.

Wie die Militärjunta in Chile stand auch in der Türkei die linke Arbeiterbewegung besonders im Visier der Verfolgungen. Noch in den 1970er Jahren existierten auch in der Bergbaubranche militante Gewerkschaften, die sich auch in den Bergwerken eine Arbeitermacht erkämpft hatten und die die Durchsetzung des Wirtschaftsliberalismus behinderten. Nach dem Militärputsch wurden die Gewerkschaften zerschlagen, Tausende ihrer Mitglieder mussten ins Exil gehen oder landeten in den Gefängnissen.

Nach dem Ende des Putsches haben die Gewerkschaften nie mehr ihre alte Stärke erreichen können. Jetzt war der Weg frei für die Politik des schrankenlosen Wirtschaftsliberalismus, die nun in Soma ihre tödlichen Folgen zeigte. Daher müsste eine Bewegung, die sich dagegen wehrt, nicht nur das Erdogan-Regime, sondern die gesamte Politik in der Türkei der letzten 30 Jahre angreifen.

Ob die Opposition dazu in der Lage ist, wird sich zeigen. Es wird auch davon abhängen, ob die Regierung die Konfrontation mit der Opposition auf die Spitze treiben will oder zumindest verbal die Tonlage etwas ändert und auf die trauernden Angehörigen der Opfer des Bergwerkunglücks mehr Rücksicht nimmt. Bisher waren auch sie Opfer der Polizeiattacken.

Streit um Erdogan-Besuch in Köln

Die neuaufgeflammten Auseinandersetzungen in der Türkei könnte auch in Deutschland Folgen haben. Am kommenden Samstag will Erdogan wie schon öfter in den vergangen Jahren vor den in Deutschland lebenden Auslandstürken in Köln eine Rede halten.

Nun wächst die Kritik daran. Vorgeworfen wird Erdogan unter anderem, dass er hauptsächlich auf Publicity für seine Kandidatur für das Amt zum Staatspräsidenten aus ist. Bisher hat er offen gelassen, ob er kandidiert.

Linke türkische Gruppen haben bereits Proteste gegen einen Erdogan-Auftritt in Köln angekündigt. Es ist gut möglich, dass in Köln auch noch rechte Gruppierungen unmittelbar vor der Europawahl mit eigenen Protesten gegen Erdogan auf sich aufmerksam machen wollen. Sollten sich die Proteste in der Türkei verstärken, könnte Erdogan einen guten Grund finden, den Köln-Besuch noch abzusagen.