Bundessozialgericht auf Sarrazin-Kurs

Wie hochbezahlte Richter dafür sorgen, dass sich Erwerbslose im Winter warm anziehen müssen

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"Einfach warm anziehen und die Heizung drosseln", empfahl der damalige Senator und heutige Fachmann für Tugendterror Thilo Sarrazin Hartz-IV-Empfängern vor 6 Jahren. So könnten sie prima Heizkosten sparen und ihre knappen Finanzen besser schonen, sagte der Mann mit den hohen Verdiensten und sorgte 2008 für Empörung.

Die Empörung blieb weitgehend aus, als vor wenigen Tagen eine Entscheidung des Bundessozialgerichts bekannt wurde. Es belässt es nicht bei warmen Empfehlungen, sondern sorgt dafür, dass sich künftig im Winter ca. 400.000 Hartz IV-Empfänger in Berlin tatsächlich auch
in ihrer Wohnung warm anziehen müssen. Das Gericht erklärte die Verordnung des Berliner Senats über die Heizkosten für unwirksam. Die erlaubten Beträge wären "Ausdruck für zu hohe Heizkosten" und würden "die Leistungsberechtigten grundsätzlich begünstigen".

Begünstigung von Hartz-IV-Empfängern scheint aber den Richtern ebenso ein Gräuel zu sein wie einem Thilo Sarrazin. Schließlich besteht für sie nie die Gefahr, in diese Kategorie zu fallen. Das rechtskräftige Urteil, gegen das keine juristischen Mittel mehr möglich sind, gilt für rund 400.000 Empfänger von Hartz IV, Sozialhilfe und Grundsicherung im Alter.

Was sind angemessene Heizkosten?

Die Richter beziehen sich auf das Bundessozialgesetzbuch, in dem festgelegt ist: Der Staat zahlt für Bedürftige die Kosten für Wohnung und Heizung, "soweit diese angemessen sind". Welcher Betrag in welcher Stadt angemessen ist, legen Länder und Gemeinden fest. Es sei denn, das Bundessozialgericht greift ein wie in Berlin. Dort hatte der christdemokratische Sozialsenator Mario Czaja 2012 eine neue Berechnungsgrundlage für diese Kosten vorgelegt. Demnach sind die Werte im Vergleich zu der linkssozialdemokratischen Vorgängerin im Sozialsenat Carola Bluhm um rund fünf Prozent gestiegen. Die Zahl der Zwangsumzüge sank innerhalb eines Jahres von 1.337 auf 612.

Die von Czaja erlaubten Mietkosten werden aus zwei Bestandteilen berechnet: der Bruttokaltmiete und den Heizkosten. Die Kaltmiete darf bei einer Person 343,50 Euro betragen, bei zwei Personen 412,20 Euro, bei vier Personen 547,40 Euro. Die Heizkosten werden nach der Größe des Hauses und der Heizungsanlage berechnet. Drei Personen in einer Doppelhaushälfte mit Ölheizung dürfen für 137,25 Euro im Monat heizen, die gleichen drei Personen in einem Mehrfamilienhaus mit Gasheizung aber nur für 100,50 Euro.

Wenn Erwerbslose wie die Reichen heizen dürfen

Die Grundlage für diese Werte war der bundesweite Heizspiegel, in dem die tatsächlichen Heizkosten von Zehntausenden Wohnungen verglichen und in vier Kategorien aufgeteilt werden. Die sparsamsten zehn Prozent kommen in die Kategorie "niedrig", die nächsten 40
Prozent in "mittel", es folgt die genauso große Kategorie "erhöht", und die teuersten zehn Prozent ergeben die Kategorie "zu hoch".

Czaja übernahm die Werte aus der Kategorie "zu hoch" und erlaubte den Hartz-IV-Empfängern und anderen Bedürftigen damit, so teuer zu heizen wie die obersten zehn Prozent der bundesweiten Bevölkerung. Wenn die Betroffenen ihre Heizkosten auf ein Normalmaß reduzieren, können sie das Gesparte für eine höhere Kaltmiete ausgeben.

"Unser Ziel war es, eine rechtssichere Satzungsregelung zu schaffen, um Empfängerinnen und Empfängern von Kosten der Unterkunft und Heizung Flexibilität bei der Wohnungssuche zu ermöglichen und somit auch die Zahl der Umzüge zu reduzieren. Ein weiteres Ziel war es, die Zahl der Gerichtsverfahren zu reduzieren. Dies war auch gelungen", erklärte der Senator nach dem Urteil. Die für die Betroffenen relativ großzügige Regelung sollte auch möglichen Protesten von Erwerbslosen vorbeugen, die sich in Berlin durchaus nicht alles gefallen lassen und auch gelegentlich Unterstützung suchen, wenn sie einen Termin bei ihren Fallmanager haben.

Wenn Richterrecht entscheidet

Nicht nur dieses Urteil sollte einen kritischeren Blick auf die Praxis in Deutschland lenken, dass immer mehr Richter über alles und jedes entscheiden. Erwerbslosengruppen fragen mit Recht, wieso Richter, die in der Regel aus der Mittel- oder Oberschicht kommen und nie in die Kategorie der Hartz-IV-Bezieher fallen, darüber entscheiden, wie die Heizkosten für diese Gruppe gestaltet werden sollen?

Neben sozialpolitischen gibt es hier auch demokratietheoretische Probleme. Anders als Politiker gehen Richter nicht ausallgemeinen Wahlen hervor, sind oft kaum bekannt. Wenn es Empörung über Richterentscheidungen gibt, wird sofort davor gewarnt, die "freie Justiz" unter Druck zu setzen. Damit soll ein Staatsapparat, der nicht erst bei der Entscheidung zu den Heizkosten massiv in die Politik und das Leben vieler Menschen eingreift, außerhalb der Kritik gestellt werden.

Diese Entscheidung des Bundessozialgerichts reiht sich ein in eine allgemeine Verschärfung der sozialen Lage von Erwerbslosen und Menschen im Niedriglohnbereich. So sind immer mehr Menschen wegen niedriger Löhne und Einkommen und hoher Mietengezwungen, in kleineren Wohnungen zu leben. "Weil die Mietpreise in den Ballungszentren steigen, leben dort immer mehr Familien in zu kleinen Wohnungen. Das erfordert Improvisation", fasst die Taz die Ergebnisse einer von der Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegebenen Studie zusammen. Gleichzeitig gibt es erste Befürchtungen, dass sich die als sozialdemokratische Regulierung der Mietkosten geplante Mietpreisbremse verzögern könnte. Das Urteil des Bundessozialgerichts ist also nur ein Baustein bei der Sarrazinierung der Gesellschaft.