Nato-Bündnisfall an der russischen Grenze?

Während Sonntagsreden über den 1. Weltkrieg gehalten werden, bereitet man sich publizistisch auf neue Kriege vor - ein Kommentar

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Aus der leidvollen geschichtlichen Erfahrung erwachse Verantwortung für die Welt. Diesen Satz flocht Bundespräsident Gauck in eine Rede ein, die er heute im Gedenken an den 1. Weltkrieg im belgischen Lüttich hielt. Seine Äußerungen waren besonders allgemein und auch geschichtslos. Er rang sich nicht einmal zu dem Bekenntnis durch, dass die geschichtlichen Erfahrungen es gebieten würden, alles zu tun, um weitere Kriege zu verhindern.

Doch eigentlich hätte ein Politiker aus Deutschland in Lüttich von dem besonderen Beitrag Deutschland bei den Kriegsverbrechen reden müssen, die am Beginn des 1. Weltkrieges begangen wurden. Das neutrale Belgien wurde vom deutschen Militär überfallen, um bessere Ausgangsbedingungen für den Kampf gegen die französische Armee zu haben. Leichen von Zivilisten pflasterten den Weg der deutschen Truppen.

Mehr ins historische Gedächtnis brannte sich die von Deutschen verübte Brandstiftung der Bibliothek von Leuven ein, die eine kultur- und kunstfeindliche Stimmung erkennen ließ, die nur zwanzig Jahre später bei der Bücherverbrennung in vielen deutschen Städten wieder zum Ausdruck kam. Bis heute sind diese deutschen Verbrechen am Beginn des Weltkriegs kaum bekannt.

Erst kürzlich haben Historiker ein total vergessenes Kapitel deutscher Verbrechensgeschichte wieder entdeckt, den elektrischen Todesstreifen an der holländisch-belgisch-deutschen Grenze, der zwischen 1915 und 1918 zwei- bis dreitausend Menschen das Leben gekostet haben soll. Von alldem hörte man weder von Gauck noch von den anderen Politkern etwas, die in diesen Tagen zum Jubiläum des 1. Weltkriegs Sonntagsreden halten.

"Nie wieder Faschismus, darum Krieg"

In Großbritannien soll heute kurz das Licht an wichtigen öffentlichen Gebäuden gelöscht werden, um an eine Zeit zu erinnern, über die ein britischer Politiker sagte, in Europa gehe jetzt das Licht aus. Doch auch hier ist der Bezug zur Gegenwart unübersehbar. So soll die Kultur des Wegschauens bei den heutigen Konflikten in aller Welt kritisiert werden. Dabei bezieht man sich auf eine Politiktradition, wie sie besonders in der Regierungszeit des rechten Sozialdemokraten Blair auf die Spitze getrieben wurde. Jetzt soll militärisches Eingreifen noch mehr als bisher als Menschenrechtsgebot erscheinen. Überall, wo britische Truppen landeten, fanden sich schnell unterdrückte Freiheiten, die lange niemand interessiert hatten und nun für die Kriegsziele instrumentalisiert wurden.

Die rotgrüne Bundesregierung war über diese neuartige Kriegsbegründung angetan. Besonders die Grünen konnten nun eine antifaschistische Parole leicht umformuliert nutzen: "Nie wieder Faschismus, darum Krieg." Wer nun gedacht hat, dass diese Art der moralisch begründeten Kriegsführung nach dem Abgang von Blair in Großbritannien und Fischer-Schröder in Deutschland der Vergangenheit angehört, hat die neuen Diskussionen nicht wahrgenommen, die angesichts der jüngsten Krisen geführt werden. Dabei ist kein Zufall, dass daran Adepten der Blair-Schule beteiligt sind und dass die Beiträge in der grünennahen Taz erschienen sind.

"Der Westen muss in den Irak zurückkehren"

Ein vehementes Plädoyer für eine Fortsetzung der Blairschen Interventionspolitik forderte in der Taz John McTernan in einem Beitrag unter dem Titel "Zurück in den Irak". "Der Westen muss in den Irak zurückkehren, er muss diese Demokratie schützen. Europäische Wähler hören das nicht gern, aber echte politische Führung bedeutet, auch schwer verdauliche Wahrheiten auszusprechen", betont McTernan, der einer von Blairs Politstrategen in der Labour-Party war.

Welche populistische Volte der Autor bei seiner Argumentation anschlägt, wird am Schluss des Artikels deutlich:

"Junge Männer aus Europa kämpfen bereits in Syrien und im Irak. Sie sind extremistisch, und sie wurden ausgebildet und indoktriniert. Der Westen ist ihr Feind. Wir mögen neutral sein wollen, was den Kampf im Irak angeht, doch für die Dschihadisten sind wir legitime Angriffsziele. Wir sind ihr Feind. Wir werden noch Jahre an den Folgen zu leiden haben, wenn diese jungen Männer den Krieg 'nach Hause' nach Europa bringen. Schon aus schierem Eigeninteresse müssen wir intervenieren, um die Ausbreitung dieser brutalen extremistischen Ideologie rückgängig zu machen. Wenn wir nicht zurück in den Nahen Osten gehen, wird der Krieg zu uns kommen."

Dass viele der jungen Männer, die für die Islamisten in den Krieg ziehen, durch die emotionale Ablehnung des westlichen Afghanistan- und Irakengagements dazu motiviert werden, verschweigt John McTernan. Hier zeigt sich einmal mehr, dass aus den Folgen des vorigen Krieges schnell die Beweggründe für die neuen Kriege werden.

Aber nicht nur der Irak dient den Blair-Epigonen als Feld für neue Versuche auf dem Gebiet des Menschenrechtskrieges. Der Taz-Auslandsressortleiter Dominic Johnson, ebenfalls ein Anhänger der Blair-Doktrin, hat Russland im Visier, wenn er in einem Kommentar den Westen Versagen vorwirft und zum Handeln auffordert. Den bis heute ungeklärten Flugzeugabsturz in der Ostukraine nutzt Johnson dazu, den Westen zum Handeln aufzurufen:

"Die internationale Staatengemeinschaft darf das nicht hinnehmen. Schulterzuckend zu akzeptieren, dass die Untersuchung des seit Jahrzehnten schlimmsten Terrorakts in Europa durch die mutmaßlichen Täter sabotiert wird, wäre eine politische Bankrotterklärung."

Im Folgenden skizziert der Kommentator ein Szenario in der Ostukraine, das geradewegs in einen Krieg mit Russland führen könnte, wenn es umgesetzt würde:

"Spezialkräfte in die Ostukraine schicken, um den Tatort zu sichern und die Leichen zu bergen, wäre eine hochriskante Operation, die kein Land allein durchführen kann. Und die Verbündeten? Bisher beschränken sich die Reaktionen westlicher Regierungen auf hilflose Appelle an Russlands Präsidenten Wladimir Putin: Er müsse 'mehr tun'. Auch das ist eine Bankrotterklärung. Es sind die
westlichen Regierungen, die mehr tun müssten – nicht zuletzt um der eigenen Selbstachtung willen. Der russische Präsident Putin hingegen muss sich heraushalten und es den direkt betroffenen Ländern überlassen, angemessen zu reagieren. Der Terroranschlag vom 11. September 2001 in den USA wurde umgehend zum Nato-Bündnisfall erklärt. Die toten Passagiere von MH17 vom 17. Juli 2014 verdienen ähnliche Solidarität."

Nato-Bündnisfall an der russischen Grenze

Der Nato-Bündnisfall soll ausgerechnet an der Grenze zu Russland exekutiert werden und Putin hat sich da ganz rauszuhalten. Und wenn er das nicht tut? Darüber schweigt der Autor. Aber der Leser Andreas Arnholz denkt Johnsons Szenario nur weiter:

"Ich sehe hier auch einen Nato-Bündnisfall und er hätte im Rahmen einer begrenzten Aktion um das abgestürzte Flugzeug herum auch zeigen können, dass wir als Westen nicht nur eine Zunge, sondern auch Zähne haben. Niemand hätte gewagt, einer Militär/Polizeiaktion von gemischten Kräften der Niederlande, Franzosen, Engländer und - ja, auch der Deutschen in die Quere zu kommen, oder meint einer der "Kriegstreiber-Rufer", dass Russland sich für die Verbrecher in der Ukraine mit der Nato anlegt?"

Gut und Böse sind in diesen Zeilen klar verteilt. Die Verbrecher in der Ukraine sind grundsätzlich die Teile der Bevölkerung, die sich nicht von Kiew unter Einbeziehung der unterschiedlichen rechten Sektoren regieren lassen wollen. Dass man Russland mal wieder die Zähne zeigen will und jetzt anders als vor 70 Jahren auch die internationale Gemeinschaft auf seiner Seite hat, wurde lange Zeit in Deutschland eher von rechten Medien verbreitet. Doch nach der Zertrümmerung des Systems von Jalta, das nicht nur Rechte, sondern auch große Teile der Grünen schon in den 80er Jahren bekämpften, findet sich auch in diesem Milieu Raum für solche neuen Kampfszenarien.

Vielleicht hätte man sich bei den Gedenkveranstaltungen zum 1. Weltkrieg die Sonntagsreden sparen und stattdessen solche Kommentare von Kolumnisten und ihren Lesern unter der
Fragestellung analysieren sollen, wie der nächste Krieg vorbereitet wird. Wenn selbst das Platzen eines Rüstungsauftrags eine Drohung ist.

Aber hat nicht zumindest der sozialdemokratische Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel pünktlich zum Jubiläum des 1. Weltkriegs für eine gute Nachricht gesorgt, als er die Lieferung eines Gefechtszentrums des Konzerns Rheinmetall kurzfristig stoppte und dafür sogar Strafzahlungen riskiert?

Nun ist jeder stornierte Rüstungsauftrag eine gute Nachricht. Doch der Stopp dieser Lieferungen dient eben nicht dem Antimilitarismus und dem Abbau von Gewalt und Krieg. Man will nur dem potentiellen Feind nicht noch beim Üben helfen. Schließlich wurde der Krupp-Konzern auch lange Zeit nicht für die gewinnbringende Produktion von Rüstungsgütern kritisiert, sondern dafür, dass er die besonders gefährlichen Kanonen an die deutsche und die britische Armee verkaufte und das noch während des 1. Weltkrieges. So ist Gabriels Lieferstopp nach Russland eher ein Zeichen für die Verschärfung der Situation zwischen Russland und der EU als ein Signal für Abrüstung.