Böse Überraschungen

Wissenschaftler gehen davon aus, dass es in Grönland und der Antarktis künftig mit der Eisabnahme schneller gehen könnte als bisher gedacht

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Drei Wissenschaftler des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven haben mit Hilfe des europäischen Satelliten CryoSat-2 die Veränderungen in den Höhen der grönländischen und antarktischen Eismassen kartiert. Dabei kam heraus, dass die Eisschilde derzeit pro Jahr rund 500 Kubikkilometer Eis verlieren. Das entspricht einem Gletscher der Größe Hamburgs mit einer Dicke von 600 Metern. Die Autoren haben ihre Ergebnisse im Fachblatt TheCryosphere veröffentlicht.

An Bord des Satelliten ist ein sogenanntes Altimeter, mit welchem der Abstand des Satelliten zur Oberfläche gemessen werden kann. Das geschieht entweder mit Radar- oder Laserstrahlen, die ausgesendet und deren Reflektion am Untergrund aufgefangen wird. Aus der Laufzeit und der genauen Position des Satelliten lässt sich dann die Höhe des Reliefs berechnen. Die Unsicherheit der Messungen, schreiben die Autoren in ihrem Abstract, habe in 80 Prozent der Messungen unter drei Metern gelegen.

Die Informationen über die Veränderungen ergeben sich aus wiederholten Messungen und einem Vergleich mit älteren Daten aus dem letzten Jahrzehnt. Zwischen 2003 und 2009 hatte ICESat die Gletscher in Grönland und der Antarktis mit einem ähnlichen Instrument vermessen.

Die Gegenüberstellung mit den ICESat-Daten ergab für die Westantarktis, dass sich dort die Eisverlustrate inzwischen verdreifacht hat. Es hat zudem auch bestätigt, dass in einem Teil der Ostantarktis, dem Königin-Maud-Land, das Eis deutlich gewachsen ist, allerdings nicht genug, um den anderortigen Verlust vollständig zu kompensieren.

Für Grönland ergab sich eine um 2,5 erhöhte Verlustrate; und über alle Eisschilde der Antarktis und Grönlands summiert, errechneten die Autoren eine jährliche Abnahme von 503 ± 107 Kubikkilometern. Mit 75 Prozent oder 375 ± 24 Kubikkilometer kommt der größte Beitrag zur Zeit noch aus Grönland. (Weitere Informationen einschließlich einiger Grafiken finden sich in einer Presseerklärung der Europäischen Raumfahrtagentur ESA.)

Interessant sind diese Daten unter anderem, weil das Schrumpfen des auf Land liegenden Eises bedeutet, dass der Meeresspiegel steigt. Zur Zeit sind es etwa drei Zentimeter pro Jahrzehnt, was bereits deutlich mehr als im vergangenen Jahrhundert ist. Neben den Eischilden Grönlands und der Antarktis tragen zum Anstieg im deutlich geringeren Umfang die Gletscher des arktischen Archipels in Kanadas Norden sowie - in noch geringeren Umfang - die Gletscher der Hochgebirge in aller Welt bei.

Ein größerer Beitrag kommt außerdem von der durch die Erwärmung der Ozeane verursachten Ausdehnung des Wassers. Die Mehrzahl der Wissenschaftler, die auf diesem Gebiet arbeiten, geht inzwischen davon aus, dass in der Summe in den 2090er Jahren der Meeresspiegel bei weiter zunehmenden Treibhausgasen bis zu einem Meter höher als heute sein könnte.

Eine Mitte August im Fachblatt Earth System Dynamics veröffentlichte Studie legt nahe, dass eventuell mit noch mehr zu rechnen ist, weil Grönland in den nächsten Jahrzehnten von der Antarktis in Sachen Eisverlust überholt werden könnte. Eine Gruppe von Wissenschaftlern des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) sowie einer ganzer Reihe weitere deutscher, britischer, japanischer und US-amerikanischer Institute hat errechnet, dass die Antarktis in diesem Jahrhundert bis zu 37 Zentimeter zum Anstieg des Meeresspiegels beitragen wird. Voraussetzung: Die Konzentration der Treibhausgase in der Atmosphäre steigt weiter wie bisher.

Bislang trägt die Antarktis weniger als zehn Prozent zum globalen Meeresspiegelanstieg bei. Es sei allerdings zu erwarten, heißt es in einer Pressemitteilung des PIK zur Studie, dass die antarktischen Eisschilde mit ihrem enormen Eisvolumen zum größten Faktor für den langfristigen Anstieg des Meeresspiegels werden. Allein der Eisschild der Westantarktis, der deutlich kleinere und labilere Teil der Eismassen auf dem Südkontinent, birgt das Potenzial, den Meeresspiegel über mehrere Jahrhunderte hinweg um mehrere Meter anzuheben.

Ziel der erwähnten Arbeit war es, die Auswirkungen verschiedener Klimaszenarien auf die Eisbilanz der Antarktis besser einzugrenzen. Zu diesem Zweck wurden vorhandene Informationen über die aktuelle Eisdicke und den Untergrund mit Modellen, die den Eisfluss simulieren sowie verschiedenen Klimamodellen zusammengebracht. Die Klimamodelle liefern dabei Informationen über zu erwartende Durchschnittstemperaturen und vor allem den Niederschlag, der in einer Eisbilanz natürlich berücksichtigt werden muss. Sozusagen als Realitäts-Check hat man die Beobachtungsdaten der letzten zwei Jahrzehnte herangezogen, das heißt, sowohl die Klima- als auch die Eisdaten und diese mit der für diese Zeit simulierten Eisbilanz verglichen. Das Ergebnis: Die Beobachtungen konnten reproduziert werden.

Neben dem Business-as-usual-Szenario, dass zu den besagten bis zu 37 Zentimetern führt, wurden auch andere Szenarien durchgerechnet. Zum Beispiel auch der Fall, dass die Treibhausgasemissionen tatsächlich so weit eingeschränkt werden, dass sich die Erde um nicht mehr al zwei Grad Celsius erwärmt. (Gemeint ist bei derlei Angaben immer das ganzjährige Mittel über die Lufttemperatur in zwei Metern Höhe, und zwar über den ganzen Globus gemittelt.)

Herausgekommen ist, dass selbst das Zwei-Grad-Ziel eigentlich nicht ausreicht, um sich auf der sicheren Seite zu wähnen. Ein Fakt, auf dem Staaten wie Bolivien mit der Unterstützung eines kleineren Teils der Klimawissenschaftler schon seit längerem verweisen. Auch bei einer Begrenzung der globalen Erwärmung würde die Antarktis bis zum Ende des Jahrhunderts noch immer 0 bis 23 Zentimeter zum Anstieg des Meeresspiegels beitragen. Das ist für sich gesehen nicht viel, aber muss mit den größeren Beiträgen Grönlands und der erwärmungsbedingten Ausdehnung der Ozeane in Zusammenhang gesehen werden.

Die Autoren betonen, dass es sich bei ihrer Arbeit um eine Risikoabschätzung handelt. Natürlich kann nicht die exakte Höhe des Meeresspiegels vorausgesagt werden. Bei den genannten Voraussetzungen werde der Beitrag der Antarktis zum Meeresspiegelanstieg in diesem Jahrhundert bei ein bis 37 Zentimeter liegen. Anders Levermann, der am PIK arbeitende Leitautor der Studie, meint:

Das ist eine große Spanne - und das ist auch der Grund, warum wir es ein Risiko nennen: Die Wissenschaft muss deutlich über solche Unsicherheiten sprechen, damit Entscheidungsträger in den Küstengebieten und Metropolen wie Shanghai oder New York die möglichen Auswirkungen in ihre Planungsprozesse einbeziehen können.

"Der steigende Meeresspiegel ist eine sich verstärkende, fortlaufende Folge des Klimawandels, die sich auf mehrere hundert Millionen Küstenbewohner weltweit auswirken kann", ergänzt Ko-Autor Robert Bindschadler vom NASA Goddard Space Flight Center.

Milliarden von Dollar, Euro, Yuan usw. stehen auf dem Spiel - vorausschauende und auf Kostenkontrolle bedachte Entscheidungsträger brauchen diese Art von nützlichen Informationen von wissenschaftlichen Experten.

Abschließend verweisen die Autoren darauf, dass es noch erheblichen Forschungsbedarf gibt, um die Abschätzungen verbessern zu können. Unter anderem halten sie die Informationen über den Untergrund, auf dem das Eis ruht, noch für unzureichend. Von dessen Topografie hängen Stabilität und Fließgeschwindigkeit der Eismassen ab.

Die Klimawissenschaftler haben das gemacht, was sie eigentlich immer machen, nur dass sie es in diesem Falle vielleicht etwas deutlicher kommuniziert haben: Sie haben gesagt in welcher Spannbreite die Resultate bei unterschiedlichen Voraussetzungen liegen werden. Gut möglich, dass nicht der maximale Meeresspiegelanstieg eintritt. Vielleicht wird er sogar eher am unteren Ende liegen.

Doch wer Städte an der Küste baut, wer auf einer niedrigen Insel lebt, kann sich nicht darauf verlassen, dass schon nichts passieren werde. Er muss Vorsorge treffen und sollte dabei vielleicht gelegentlich bedenken, dass die nach wie vor bestehenden vielfältigen Unsicherheiten über die Reaktion des Klimasystems auch heißen, dass es noch schlimmer kommen könnte.

Böse Überraschungen bleiben möglich. Gegen manche, wie Vulkanausbrüche der Meteoriteneinschläge, lässt sich nichts machen, außer im vernünftigen Rahmen Vorsorge zu treffen; andere, wie der Klimawandel, lassen sich verhindern, zumindest noch zum größeren Teil.