Gehören Kriege zur Natur der Menschen?

Nie wurde während es eines Nato-Gipfels so viel über Kriegsvorbereitung geredet, nie waren die Proteste so klein

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Tausende Nato-Gegner demonstrieren gegen den Nato-Gipfel, ein Teil der Demonstranten liefert sich Straßenschlachten mit der Polizei. In der Nähe des Gipfels sind Gebäude ausgebrannt. Dieses Szenario stammt vom Nato-Gipfel 2009 in Straßburg, gegen das ein größeres Bündnis
aus mehreren europäischen Ländern mobilisierte.

Schon damals war das Verhältnis zu Russland ein zentrales Thema und sorgte für Streit. Auf
der Tagung wurde beschlossen, die nach dem Georgien-Krieg eingefrorenen Kontakte im Nato-Russland-Rat wieder aufzunehmen. Dafür setzten sich verschiedene westeuropäische Staaten, allen voran Deutschland, ein. Die neuen Nato-Mitglieder aus Osteuropa hingegen drängten auf eine stärkere Abgrenzung zu Russland.

5 Jahre später ist dieser Konflikt im Zeichen der Ukrainekrise wieder voll entflammt und beherrschendes Thema des Nato-Gipfels in Wales. Nur sind die Positionen, die sich weiter für eine Entspannung im Verhältnis zu Russland aussprechen, in der Defensive.

"Die Nato wird nicht bedroht"

Solche Positionen finden sich bei dem ehemaligen Direktor des Friedensforschungsinstituts SIPRI Walter Stützle. Er warf den Nato-Mitgliedsstaaten in einem Interview im Deutschlandfunk vor, die atlantische Allianz vollkommend entpolitisiert und sich total auf militärische Detailfragen konzentriert zu haben.

"Es ist in der ganzen Diskussion vollkommen übersehen und vergessen, dass die NATO militärisch überhaupt nicht bedroht wird", betonte Stützle. Damit stellt er sich gegen eine Sichtweise, die vor allem von den osteuropäischen Regierungen und ihren Unterstützern in Westeuropa und den USA gepflegt wird. Danach sei die Ukraine nur das Pilotprojekt für die Ausweitung des russischen Einflusses. Auch andere osteuropäische Staaten wie die baltischen Länder oder Polen könnten durch Russland destabilisiert werden, so die Befürchtung.

Stützle betont, dass es keinerlei Anzeichen gibt, dass die russische Regierung ein Nato-Mitglied angreifen könnte. Aber genau dieser Eindruck sei im Vorfeld des Nato-Gipfels ständig erweckt und damit eine Kalte-Kriegs-Rhetorik erzeugt worden, die jede verständnisbereite Stimme gegenüber Russland in die Nähe der berüchtigten "Putinversteher" und Anhänger einer Appeasement-Politik rückt.

Die deutsche Bevölkerung auf harte Maßnahmen vorbereiten

Viel hegemonialer sind heute Positionen, wie sie der ehemalige Vorsitzende des Nato-Militärausschusses Klaus Naumann ebenfalls im Interview mit dem Deutschlandfunk vertreten hat. Auch er muss konzedieren, dass es eine militärische Lösung im Ukraine-Konflikt nicht gibt. Damit meint er aber nur, dass man jetzt nicht mit Nato-Gruppen in den Konflikt eingreifen kann, weil die Ukraine schließlich kein Nato-Mitglied ist. Doch gleichzeitig sprach sich Naumann für die Entsendung einer Eingreiftruppe aus, die "Bündnissolidarität und defensive Entschlossenheit" demonstrieren soll.

Mittlerweile hat der Nato-Gipfel eine solche schnelle Eingreiftruppe mit 5.000 Soldaten beschlossen. Beigemischt hat Naumann dieser Politik der Stärke eine Art Küchenpsychologie, die Kriege in die Natur des Menschen verlegt. Die deutsche Bevölkerung müsse sich daran gewöhnen, auch harte Auseinandersetzungen zu führen. In Deutschland habe sich der Glaube breitgemacht, "dass man alle Konflikte mit Verhandlungen und Gesprächen lösen kann. Aber das ist gegen die Natur des Menschen". Diese Einsicht zu erreichen, setze eine entschlossene politische Führung voraus, die einerseits versuche, alle politischen Mittel bis zur Grenze auszuschöpfen – aber wenn das scheitere, an der Seite ihrer Partner harte Maßnahmen" zu beschließen. Bundespräsident Gauck scheint mit seinen Reden über deutsche Verantwortung auch auf dem Gebiet des Miltiärischen ganz auf Naumanns Linie zu liegen.

Er sieht in einer solchen Politik eine Rückkehr zur Politik der Abschreckung. Auch Siegesmeldungen gehören schon zum Repertoire von Naumann: "Moskau muss damit wissen: Wenn sie diese NATO-Truppen sozusagen berühren, dann stehen sie an der Schwelle eines bewaffneten Konflikts mit allen 28 NATO-Ländern, einem Konflikt, den Russland niemals gewinnen kann." Allein der Terminus vom Berühren der Truppen lässt viel Spielraum für Kriegsspiele. Schließlich zeigt die Geschichte, wie schnell man eine Berührung inszenieren kann, wenn eine Seite bereit ist, einen Krieg zu führen.

Naumann versucht mit dem Gerede von Krieg als Natur des Menschen, gesellschaftskritische Impulse aus der Tatsache, dass 5 Jahre nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes Kriege auch in Europa wieder als möglich betrachtet werden, erst gar nicht aufkommen zu lassen. Dabei hat ein solches Szenario eine Minderheit von kritischen Publizisten und Gesellschaftskritikern wie Thomas Ebermann und Rainer Trampert schon Anfang der 90er Jahre prognostiziert, als fast alle Welt sich an der angeblichen Friedensdividende nach dem Ende des Warschauer Paktes berauschte.

Auch die Konfliktherde in der Ukraine und im Kaukasus wurden damals schon präzise benannt. Dazu brauchten sie keine telepathischen Fähigkeiten, sondern einen von Interessen unverstellten Blick innerhalb einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft. Es brauchte nicht viel Prophetie, um zu erkennen, dass nach dem fast weltweiten Sieg des Kapitalismus auch Kriege um Einflusssphären und Rohstoffe wieder auf der Tagesordnung stehen.

Das erste Pilotprojekt für einen solchen Krieg in Europa fand übrigens in Jugoslawien mit aktiver deutscher Hilfe statt. Schon damals war neben Serbien auch Russland als dessen Verbündeter zum Gegner geworden. Die Ausbreitung der Nato nach Osteuropa schließlich legte den Grundstein für die aktuellen Konflikte. Bemerkenswert, dass in einer Zeit, als sich der Warschauer Pakt auflöste, eine Auflösung der Nato als logische Folgerung selbst aus dem Forderungskatalog von politischen Gruppen wie den Grünen verschwand, die in den 1980er Jahren diese Forderung im Programm hatten.

Mit dem Sturz einer bürgerlich-demokratisch gewählten Regierung und der Etablierung einer
ultrarechten Pro-Nato-Koalition in Kiew würde das Militärbündnis sich noch direkter an der Grenze zu Russland etablieren. Dass damit das fragile innenpolitischeGleichgewicht zwischen prowestlichen und prorussischen Kapitalfraktionen zerbrach, ist der Grund für den innerukrainischen Konflikt und dieZuspitzung der Beziehung zu Russland. Dass eine solche Situationsanalyse nicht auf dem Nato-Gipfel in Wales erfolgt, ist klar. Dass aber auch von Friedensaktivisten heute wenig zu hören ist, scheint auf den ersten Blick unerklärlich. Waren die Proteste beim Nato-Gipfel in Straßburg schon schwach, so sind die Proteste in Wales noch geringer.

Auch hier bestätigten sich die Prognosen von Gesellschaftskritikern, die vor 25 Jahren davor warnten, dass die Antikriegsbewegung in Deutschland und der EU desto schwächer werde, je mehr dort Kriege wieder vorbereitet und geführt werden.

Koalition gegen IS angekündigt


Natürlich spielte auch der Aufstieg des "Islamischen Staats" am Nato-Gipfel eine große Rolle. Auch hier wurde die Bildung einer Koalition angekündigt, die die Werte der westlichen Welt gegen die IS verteidigen will. Bodentruppen sollen dabei zunächst nicht eingesetzt werden. Alles andere blieb wolkig.

Dass der IS auch die Konsequenz einer desaströsen Politik von Nato und USA von Afghanistan
über Syrien bis Libyen ist, war in Wales natürlich kein Thema. Doch auch für die Nato-Gegner bereitet der Aufstieg der IS Probleme. Was hilft es schließlich, wenn man mit der Einschätzung der Nato-Politik Recht hatte, wenn der IS Menschen vertreibt, bedroht und ermordet, aber sich keine emanzipatorische Kraft zeigt, die ihm Einhalt bietet?