Kurden: weitere Vorwürfe über türkische Waffenhilfe an den IS

Im Kanton Kobanê wird vor einem zweiten Massaker gewarnt. Indessen wird dem türkischen Präsidenten Erdogan ein Doppelspiel mit dem IS vorgeworfen

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300.000 Flüchtlinge befinden sich im Kanton Kobanê in der autonomen Region Rojava in Nordsyrien – Christen, Eziden und arabische Binnenflüchtlinge. Der IS hat zahlreiche Dörfer rund um Kobanê erobert (siehe Schlacht um Ain al-Arab); den YPG-Milizen und der türkisch-kurdischen HPG geht laut Berichten die Munition aus, indessen der Türkei von kurdischer Seite vorgeworfen wird, dass sie den IS mit Munition und auch Waffen versorgt.

Am Freitag öffnete die Türkei nach anfänglichem Widerstand der türkischen Militärs ihre Grenze zu dem Kanton Kobanê: 45.000 syrischen Flüchtlingen gelang somit die Flucht vor dem IS in die Türkei. Nahezu zeitgleich soll die Türkei in Mürsitpinar, Waffen und Munition für den IS in unmittelbarer Nähe abgeladen haben, was Spekulationen über ein Doppelspiel Erdogans eröffnet und den Friedensprozess zwischen der Türkei und der kurdischen Guerilliaarmee PKK gefährdet.

Während sich der Westen aus den gefährlichen Entwicklungen in Nordsyrien bislang raushält, rief nun auch Mesud Barzani, Präsident der nordirakischen Autonomieregion, zur Unterstützung für Rojava auf und schickte 800 Peschmerga-Kämpfer und Spezialeinheiten dorthin. Einem Facebook-Post ist zu entnehmen, dass sie auch angekommen sind - allerdings ist diese Meldung mit Vorsicht zu genießen, verfolgt Barzani doch ganz andere Ziele als die Autonomieregierung in Rojava, schließlich versteht sie sich als demokratisches Konkurrenzprojekt zu seinen Bestrebungen eines unabhängigen kurdischen feudalistischen Staates.

Gebrauchen können die Selbstverteidigungseinheiten YPG aus Rojava die Unterstützung auf jeden Fall, sind sie doch mit der bislang größten Militäroffensive des IS konfrontiert. Man kämpft seit etwa zwei Jahren gegeneinander. Im Moment zählt vor allem die Zeit und politische Konflikte zwischen Rojava und Barzani stehen zurück. Es geht darum, ein mögliches Massaker zu verhindern und die erneute Vertreibung der traumatisierten Flüchtlinge, die sich nach Kobanê in vermeintliche Sicherheit gebracht haben.

Kobanê ist einer der 3 Kantone der autonomen kurdischen Region Rojava in Nordsyrien, er liegt in der Mitte, abgeschnitten von den anderen beiden Kantonen durch den IS und vom Norden boykottiert durch die Türkei.

Die Angriffe auf Kobanê erfolgen aus mehreren Richtungen, die YPG und PKK haben im Umkreis viele Dörfer evakuiert und Flüchtlinge Richtung türkische Grenze eskortiert, in der Hoffnung, sie können dort in Sicherheit gebracht werden.

Erst setzten die türkischen Militärs allerdings Tränengas und Wasserwerfer gegen die Flüchtlinge ein, um sie am Grenzübertritt zu hindern. Angesichts des Ansturms von Flüchtlingen wurde die Grenze schließlich aber doch für die Flüchtlinge geöffnet.

Just an dieser Grenze soll die Türkei allerdings, wie ihr Berichte aus kurdischen Quellen vorwerfen, den IS unterstützen, indem sie über die Bagdad -Bahn Waffen und Munition an den IS liefert:

Eigentlich fährt der Zug seine ganz gewöhnliche Route entlang der türkisch-syrischen Grenze. Doch dann kommt es zu einem unerwarteten Zwischenstopp an einem Ort, an dem es keine Station gibt und wo normalerweise nicht gehalten wird. Es steigen einige Personen aus dem Zug, dutzende Kartons und Kisten werden von ihnen entladen. Dann steigen alle wieder ein, und der Zug fährt einfach weiter, so als sei nichts Außergewöhnliches geschehen. Auf der anderen Seite der Grenze, also in Syrien, genau dort wo der Zug außerplanmäßig gestoppt hatte, liegt das Dorf Silîb Qeran, nahe der Stadt Girê Spî (auf arab. Til Abyad), die unter der Kontrolle des sogenannten Islamischen Staates (IS) steht. Und eben von Silîb Qeran aus spazieren Mitglieder des IS in aller Seelenruhe über die Grenze in die Türkei, holen die dort für sie abgeladenen Kisten und Kartons ab und kehren wieder zurück nach Syrien. Dieser Vorfall ereignete sich in der Nacht vom 15. auf den 16. September und ist nur der jüngste Beweis dafür, wie die Türkei die Organisation IS unterstützt, wenn diese in den Kampf gegen Rojava zieht.

Das kurdische Nachrichten Portal Nûçe- News erhebt ebenfalls Vorwürfe in dieser Richtung. Nûçe- News berichtete am 19.9.14 von Augenzeugen, die beobachtet haben sollen, dass türkisches Militär angeblich "fünf Lkws mit schweren Waffen für den IS zwischen den Dörfern Qermuq und Ayn al-Bat, östlich von Kobane über die Grenze geschickt habe".

Salih Muslim, der Co-Vorsitzende der PYD in Rojava, spricht in einem Interview mit der FAZ von Munitionslieferungen (siehe: Lieferte die Türkei dem IS Munition für US-Panzer?). Im Interview mit dem kurdischen Portal Bestanuce hatte er bereits ähnliche Vorwürfe geäußert.

Da die 49 türkischen Geiseln des türkischen Konsulats aus Mossul am vergangenen Wochenende aus den Händen des IS freikamen - und Erdogan dazu allerhand Rätselspiele aufmachte - eröffnet dies auch den Raum für Spekulationen, wie etwa über eine mögliche Absprache zwischen Ankara und dem IS, die Geiseln gegen Waffenlieferungen freizulassen.

Die oben genannten Vorwürfe über jüngste Waffenlieferungen über die Bagdad-Bahn stellen darüberhinaus die Frage, wieso es weitere Waffenlieferungen an den IS geben soll, wenn die 49 Geiseln schon längst in Sicherheit sind? Das nährt Spekulationen, dass die Türkei den IS weiterhin unterstützt. Warum? Um das demokratische Modell Rojava in Syrien zu zerstören, damit dies nicht Schule macht und auf die Türkei herüberschwappt?

Bemerkenswert ist außerdem, "dass amerikanische und britische Geiseln vor laufender Kamera geköpft werden, während türkische freikommen", wie der Spiegel berichtet. Was bringt den IS zu einer solchen unterschiedlichen Behandlung der Geiseln - die Zusicherung der Türkei auf Unterstützung? Da die europäischen Staaten sich mit Empörung zuückhalten, tauchen auch Fragen danach auf, ob das nicht System hat und Teil der Strategie sein könnte. Indessen warnte der Covorsitzende der PYD, Salih Muslim angesichts der aktuellen Angriffe auf Kobanê vor einem zweiten Massaker wie in Şengal.