Für die türkische Regierung ist die PKK und nicht die IS der Hauptfeind

Die aktuellen Angriffe auf ihre Stellungen sind nur eine Fortsetzung des Einsatzes von Islamisten gegen die kurdische Nationalbewegung

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Seit Wochen wird von vielen Seiten gefordert, dass die türkische Armee endlich in die Auseinandersetzung zwischen den IS-Milizen und den kurdischen Verteidigern von Kobane eingreifen. Am vergangenen Dienstag griff die türkische Armee tatsächlich ein, aber nicht gegen die IS und nicht in Kobane. Dafür bombardierte türkische Militärs Stellungen der PKK und brach einen Waffenstillstand, der mehr als eineinhalb Jahre gehalten hat.

Die Angriffe kommen nicht überraschend. Die neoislamistische Erdogan-Regierung hatte einerseits weniger ideologische Probleme als die Kemalisten, mit der kurdischen Nationalbewegung zu verhandeln. Allerdings ging es nur darum, alle Kräfte, die dem Machtanspruch der AKP im Wege standen, zu domestizieren. Doch das ist bei der PKK vor allem deshalb bisher nicht gelungen, weil sie nicht mehr in erster Linie auf die nationale Karte setzt.

In der kurdischen Nationalbewegung haben vielmehr in den letzten Jahren rätedemokratische, feministische und herrschaftskritische Vorstellungen zumindest theoretisch einen größeren Stellenwert bekommen.

Islamisten gegen kurdische Nationalbewegung

Die aber sind nun überhaupt nicht kompatibel mit den wirtschaftsliberalen und kulturkonservativen Vorstellungen der Islamisten um Erdogan und Co. Der hat deshalb auch nie einen Zweifel daran gelassen, dass er in der PKK eigentlich eine größere Gefahr als in der IS sieht.

Mehrmals sprach Erdogan in den letzten Tagen davon, dass es sich beim Kampf um Kobanê um eine Auseinandersetzung zwischen zwei terroristischen Gruppen handelt, womit er den IS und die PKK auf eine Stufe stellte. In der Realität gibt es diese Äquidistanz allerdings nicht, und das begann auch nicht erst mit der AKP-Regierung.

Tatsächlich wurden immer wieder radikale Islamisten gegen die kurdische Nationalbewegung eingesetzt. Schon in den 1990er Jahren noch unter den vom Militär protegierten Rechtsregierungen ermordete die türkische Hisbollah kurdische Intelektuelle, Gewerkschafter und andere Aktivisten. Die Hizbollah war so neben den faschistischen Grauen Wölfen ein Element des sogenannten tiefen Staats in der Türkei.

Auch später spielten Radikalislamisten in der Türkei eine große Rolle, die einen islamischen Staat schon zu einer Zeit aufbauen wollten, als von ISIS und IS noch keine Rede war. Dieser lange blutige islamistische Terror gegen die PKK ist hierzulande wenig bekannt. Für die kurdische Nationalbewegung ist eine mögliche Rückkehr der "kurdischen Hisbollah" eine Schreckensnachricht. Der Politikwissenschaftler Ismail Kupeli schreibt in einer Analyse, dass die IS von der Erdogan-Regierung gegen die kurdische Nationalbewegung aufgebaut und eingesetzt wurde.

Der IS und andere islamistische Organisationen, die in den syrischen Bürgerkrieg verwickelt waren, wurden von der türkischen Regierung als Gegenmacht zur PKK-nahen kurdischen autonomen Region Rojava in Nordsyrien unterstützt oder zumindest geduldet. Während die Stabilisierung der kurdischen Eigenständigkeit in Nordsyrien und die Stärkung der PKK-nahen PYD-Partei (Partei der Demokratischen Union) als Gefahr für die türkischen Interessen deklariert wurden, betrachtete man die Aktivitäten des IS und anderer JihadistInnen nicht als Problem.

Insofern ist das aktuelle Handeln der türkischen Regierung nur eine Fortsetzung der Taktik, unterschiedliche islamistische Gruppen gegen die kurdische Nationalbewegung und die linke Opposition in der Türkei einzusetzen. In den letzten Tagen griffen in der Türkei Nationalisten und Islamisten kurdische Demonstranten an. Die Polizei wollte Vorsorge treffen, dass davon möglichst wenig in die internationale Öffentlichkeit bekannt wird.

So wurden drei Journalisten aus Deutschland zeitweise festgenommen. Erdogan sah sie wieder einmal als Teil einer Verschwörung gegen die Türkei. Auch nach ihrer Freilassung wird weiter gegen sie ermittelt. Ihre Fotoausrüstung wurde beschlagnahmt.

Auch in Deutschland PKK weiter verboten

Aber nicht nur in der Türkei auch in Deutschland wird die PKK weiterhin als Terrorgruppe behandelt. Dafür wurde eine Phantomdebatte darüber geführt, dass die Türkei mit Truppen in Kobane gegen die IS eingreifen soll. Dabei wird gerne das Schicksal der eingeschlossenen Kurden als Argument angeführt und sogar behauptet, die kurdische Nationalbewegung fordere einen solchen Schritt. Dabei haben die meisten kurdischen Verbände, die gegen die IS kämpfen, einen türkischen Einmarsch explizit abgelehnt.

Im Anschluss monieren deutsche Politiker wie Ruprecht Polenz, wie leichtfertig der Türkei vorgeworfen werde, sie schicke keine Bodentruppen nach Syrien. Dabei wirft er den syrischen Kurden und der PKK fälschlicherweise vor, an der Seite Assads gegen die syrische Opposition gekämpft zu haben. Tatsächlich hat die kurdische Bewegung in den von ihr kontrollierten Gebieten Rätestrukturen aufgebaut und ein Maß an individueller Freiheit ermöglicht, wie es weder in den vom Assad-Regime noch von den diversen Islamistenfraktionen kontrollierten Regionen in Syrien auch nur denkbar wäre.

Der Kampf gegen die kurdische Nationalbewegung statt gegen die IS ist so durchaus nicht nur eine Praxis der türkischen Regierung. Sie findet auch in Deutschland mehr oder weniger offene Fürsprecher. Die würden sie auch verteidigen, wenn sie dann nach einer Niederlage der YPG doch noch in Nordsyrien intervenieren sollte, wie es die Türkeikorrespondentin Sabine Küper-Büsch in einem Szenario ausmalt:

Die türkische Regierung behauptet, den IS nun bekämpfen zu wollen. In Wahrheit wartet sie wohl auf eine Gelegenheit, um eine "Pufferzone" in Syrien einzurichten. Die Türkei würde dann das Kurdengebiet kontrollieren und der IS könnte sich ruhig und friedlich nach Mossul und Rakka zurückziehen.