Neuorientierung in Umbruchzeiten

Die kurdische Linke sucht bei einem internationalen Treffen in Hamburg nach neuen Wegen der Emanzipation

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Ende März musste auch die breite Öffentlichkeit zur Kenntnis nehmen, dass sich die linke kurdische Befreiungsbewegung in einem tiefgreifenden Umbruchsprozess befindet. Anlässlich des kurdischen Neujahrsfestes Newroz rief Abdullah Öcalan, der inhaftierte Vorsitzende der kurdischen Arbeiterpartei PKK, die Kurden dazu auf, den bewaffneten Kampf gegen die türkische Armee endgültig einzustellen und einen Friedensprozess mit Ankara einzuleiten. Bislang galt nur ein Waffenstillstand zwischen der PKK und der türkischen Armee.

In der in Diyarbakir verlesenen Botschaft schlug Öcalan vor, einen Friedenskongress zu organisieren, auf dem eine politische Strategie festgelegt werden solle, um "den 40 Jahre langen Kampf gegen die Türkische Republik zu beenden" und eine "neue Ära"in den kurdisch-türkischen Beziehungen einzuleiten. In dem Konflikt sind seit 1984 mehr als 40.000 Menschen ums Leben gekommen.

In dieser Umbruchssituation veranstalten linke kurdische Gruppierungen einen internationalen Kongress in Hamburg, auf dem die Grundrisse einer solchen Neuorientierung linker und emanzipatorischer Politik diskutiert werden sollen. Vertreter der syrischen Selbstverwaltungsstrukturen, die in Nordsyrien aufgebaut werden, werden hier auf bekannte Aktivisten, Akademiker und Intellektuelle der internationalen emanzipatorischen Linken treffen.

David Harvey von der City University of New York wird sich beispielsweise mit dem spätkapitalistischen Nationalstaat auseinandersetzen. Der Soziologe und Buchautor John Holloway wird die gegenwärtige Krisenperiode auf den Begriff des "4. Weltkrieges" bringen und Parallelen zwischen den mexikanischen Zapatista und den kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen in Syrien aufzeigen. David Graeber, Autor des Weltbestsellers "Schulden", wagt hingegen den Ausblick auf eine "Humane Ökonomie", in der nicht mehr des Selbstzweck der Kapitalverwertung, sondern die menschlichen Bedürfnisse eine zentrale Rolle spielen werden.

In einem ersten thematischen Block soll eine Reihe analytischer Beiträge eine möglichst exakte Bestandsaufnahme des real existierenden Kapitalismus liefern. Es gelte, "die kapitalistische Moderne zu sezieren", hieß es im Kongressprogramm. Vorträge zu den Themenkomplexen Staat, Säkularismus, kulturelle Hegemonie oder Industrialismus sollen dabei helfen, eine solche Zustandsbeschreibung des Spätkapitalismus zu liefern.

Hiernach werden Alternativen zu dem gegenwärtigen krisengeplagten System entworfen und die Erfahrungen ausgewertet, die beim Aufbau von Selbstverwaltungsstrukturen - nicht nur in Syrien - bereits gemacht wurden. Die alternativen Konzepte der Commons, des demokratischen Konföderalismus oder einer ökologischen Ökonomie sollen ebenso diskutiert werden wie die "Stolpersteine" bei der Realisierung einer emanzipatorischen Strategie, die sich etwa aus den Notwendigkeiten der militärischen Selbstverteidigung oder patriarchalen Strukturen in der Region engeren können. Die Perspektive soll nicht nur auf Kurdistan beschränkt bleiben, Referenten aus Bolivien oder den Philippinen werden ebenfalls ihre Erfahrungen einbringen.

Die Konferenz Network for an alternative quest 2015 findet vom 3. bis zum 5. April in Hamburg statt.

Zum Thema siehe auch das Telepolis-eBook:

Aufbruch ins Ungewisse
Auf der Suche nach Alternativen zur kapitalistischen Dauerkrise