Sozialgerichtsurteil lässt hoffen: Sanktionen bei ALG II verfassungwidrig

Außer Kontrolle

Seit Einführung des Arbeitslosengeld II (ALG II) wird darüber gestritten, ob Sanktionen, die die ALG II-Leistungen kürzen, verfassungsgemäß sein können. Das Sozialgericht Gotha sagt: Nein.

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Arbeitslosengeld II, bestehend aus dem Regelbedarf und den Kosten der Unterkunft sowie ggf. zahlbaren Mehraufwandsleistungen, soll das soziokulturelle Existenzminimum darstellen. Dieser Begriff sagt nicht nur, dass es um mehr geht als das nackte Überleben im Sinne von Wasser, Brot und einem Dach über dem Kopf. Er sagt auch aus, dass es sich um einen Mindestbetrag handelt, der für ein soziokulturell vertretbares Leben adäquat ist. Dies wird durch den Begriff "Minimum" klar. Um die Höhe der Regelleistung sowie auch die Berechnungen der Kosten der Unterkunft sind seit langem heftige Debatten entstanden, doch ein anderer Aspekt von ALG II hat die Gemüter weit mehr erhitzt: Sanktionen.

Sanktionen sind die Folgen, die eintreten, wenn der ALG II-Empfänger sich nicht an bestimmte Vereinbarungen hält, die per Gesetz und/oder die umstrittene Eingliederungsverordnungvereinbarung (geändert am 30. 5. 2015, 9.50 Uhr) vorgegeben sind. Solche Sanktionen können auch die Kürzung des soziokulturellen Existenzminums um 30,60 oder 100% bedeuten . Dies führt dazu, dass lediglich die Kosten der Unterkunft gezahlt werden (direkt an den Vermieter) und dass Lebensmittelgutscheine ausgegeben werden können. Das Gesetz lässt sich so interpretieren, dass auch eine Streichung der Kosten der Unterkunft möglich wäre.

Hier ist das Wort "können" entscheidend, denn in Bezug auf die Lebensmittelgutscheine wurde keine Regelung geschaffen, die die Worte "müssen" oder "sollen" enthalten. Dies ist in gesetzlichen Regelungen essentiell, denn während "muss" keine Ausnahmen zulässt (sofern nicht explizit definiert), heißt ein "sollen", dass etwas getan werden muss, sofern dies möglich ist. Wer davon abweicht, muss dies eindeutig begründen - und diese Begründung muss bestimmten Regeln entsprechen. "Soll heißt muss, wenn ich kann" wird dies in der Rechtslehre verkürzt.

Bei den "Kann"-Bestimmungen ist dies anders – hier handelt es sich um Entscheidungen, bei denen die Entscheider relativ frei sind, in ihrem Ermessen. Erst durch Widersprüche und ggf. gerichtliche Entscheidungen kann dann gegen diese Entscheidung vorgegangen werden. In Bezug auf die Lebensmitelgutscheine heißt dies: Werden diese abgelehnt, hat der ALG II-Empfänger zunächst einmal Pech. Ein Anrecht auf diese besteht nicht.

Damit ist das Problem bei den Lebensmittelgutscheinen jedoch noch nicht abschließend behandelt. Durch diese ergeben sich nämlich weitere Probleme. Kurz gesagt sind Lebensmittelgutscheine eben nur für Nahrungsmittel gedacht - d.h., wie Versicherungen, Hygieneartikel, etwaige Medikamente, Strom usw. gezahlt werden sollen ist irrelevant für die Sanktionierenden - und dies ist nur ein Teil des Problemes.

Unabhängig von Lebensmittelgutscheinen stellt sich aber die Frage, wie ein Minimum noch gekürzt bzw. ganz gestrichen werden kann. Dass dies verfassungswidrig sein würde, haben ALG II-Kritiker schon lange angemerkt. Das Urteil des Sozialgerichtes Gotha, lässt jetzt neue Hoffnung auf gerichtliche Überprüfung keimen. Das Sozialgericht sieht nämlich die Sanktionen als verfassungswidrig an und will dies vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe überprüfen lassen.

Konkret ging es um einen ALG II-Empfänger, dessen Leistungen zunächst um 30 und dann um 60% gekürzt wurden Als Begründ wurde angegeben, er habe sich nicht an die Regelungen in der Eingliederungsvereinbarung gehalten bzw. eine Probearbeit abgelehnt. Diese Kürzung des soziokulturellen Existenzminimums hielt der Kläger für verfassungswidrig. Eine Ansicht, der sich das Sozialgericht in Gotha anschloss .Das Sozialgesetzbuch II, welches in Kapitel 1, §1 Absatz 1 die Aufgabe der "Grundsicherung für Arbeitssuchende" (ALG II) definiert, nimmt zwar keinen direkten Bezug auf das Grundgesetz, dies ist jedoch auch nicht notwendig. Denn der Begriff der Menschenwürde wird im Absatz 1 erwähnt, wenn es heißt "Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll es Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht." Darüber hinaus ist jedes Gesetz natürlich dem obersten Gesetz, dem Grundgesetz, unterworfen.

Das Sozialgericht Gotha sieht die verfassungsgemäß garantierte Menschenwürde durch die Sanktionen verletzt. "Bei einer Kürzung der Regelleistung um 30 oder gar 60 Prozent und erst recht bei einer kompletten Streichung sei das soziokulturelle Existenzminimum der Arbeitslosen nicht mehr gewährleistet. Durch unzureichende Mittel für die Ernährung sei auch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit bedroht, so das SG Gotha weiter. Und schließlich könne die Verpflichtung eines Arbeitslosen, einen bestimmten Job anzunehmen, auch das Grundrecht auf Berufsfreiheit verletzen." schreibt das Juraforum (das Urteil selbst ist noch nicht online verfügbar).

Zwar haben bereits Betroffene selbst das Bundesverfassungsgericht angerufen, doch laut bisherigem Sachstand ist es das erste Mal, dass ein Sozialgericht sich hinsichtlich der Sanktionen an das BVerfG wendet. Heribert Prantl hat in der Süddeutschen Zeitung zwei treffende Kommentare diesbezüglich geschrieben, die nicht nur die Hoffnung auf ein Ende der Sanktionen wiedergeben, sondern auch deutlich machen, wie die Behandlung von ALG II-Empfängern durch die Transferleistungszahlbehörden eingeschätzt wird:

"Womöglich sind Sanktionen schlicht eine einfallslose Reaktion darauf, dass sich die Beschäftigungschancen für Langzeitarbeitslose weiter verschlechtern. Sie werden von den Jobcentern als Kunden bezeichnet - aber oft wie Penner behandelt."

So Prantl - und die diversen Erfahrungen, die sich in Foren und auch Medienberichten nachlesen lassen, zeigen, dass diese Einschätzung nicht von ungefähr kommt.