Orakeln im Genlabor

Durch Fortschritte in der Sequenzierungstechnologie kann bald jeder sein Genom untersuchen lassen. Doch die Ergebnisse sagen oft kaum etwas aus.

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Von
  • Kristin Raabe

Die Frau am anderen Ende der Leitung weinte. „Ich habe gerade ein Gentest-Ergebnis bekommen, ich bin erbkrank, muss ich mich jetzt sterilisieren lassen?“, wollte sie von Professor Wolfram Henn, dem Leiter der Genetischen Beratungsstelle in Homburg/Saar, wissen. Erst eine genaue Befragung förderte den Grund für die Panik der Ratsuchenden zutage: Sie hatte erfahren, dass sie eine Genvariante besitzt, die ihr Risiko verdoppelt, irgendwann an Thrombose zu erkranken. Was sie nicht wusste: „Diese Genvariante kommt bei etwa zehn Prozent der Bevölkerung vor und hat so gut wie nichts zu bedeuten“, erklärt Henn. Selbst wenn sie zu finden ist, liegt bei Betroffenen das lebenslange Thromboserisiko bei wenig mehr als einem halben Prozent.

Mediziner berichten, dass sich derlei aufgeregte Anfragen in ihren genetischen Beratungsstellen in jüngster Zeit häufen. Der Grund: Technische Fortschritte haben individuelle DNA-Analysen erschwinglich gemacht. Mehrere Unternehmen bieten schon Tests auf bestimmte Krankheitsrisiken über das Internet an. Privatleute greifen zu, ob aus Neugier oder aufgrund konkreter Hinweise aus der familiären Krankheitsgeschichte. Doch eine eingehende Beratung ist im Preis meist nicht enthalten – und dass die Ergebnisse meist sehr wenig aussagen, ist kaum bekannt.

Einen Test für das individuelle Thromboserisiko etwa haben deutsche Labore schon für 65 Euro im Programm. Wer es ausführlicher haben will, kann bei mindestens drei Anbietern eine umfassendere Genomanalyse in Auftrag geben. Das 2500 Dollar teure Angebot der USFirma Navigenics bezieht sich nur auf Krankheitsrisiken und schließt immerhin eine telefonische Beratung mit ein. Die isländische deCODEme verspricht für 985 Dollar auch Angaben über die ethnische Herkunft der Vorfahren.

Am meisten Schlagzeilen machte bislang das US-Unternehmen 23andMe, an dem Anne Wojcicki, die Ehefrau des Google-Gründers Sergey Brin, beteiligt ist. Genau wie die beiden Konkurrenten bietet auch 23andMe lediglich eine sogenannte SNP (Single Nucleotide Polymorphismus)-Analyse an. Damit wird an 600000 bis einer Million Stellen auf den 46 menschlichen Chromosomen nach Schreibfehlern gesucht. Schon der Austausch einer Base im DNA-Strang kann etwa die Entstehung von Prostatakrebs begünstigen oder Sichelzellenanämie hervorrufen. Er kann aber auch nur eine bedeutungslose Variation im genetischen Code sein. Für die meisten messbaren SNPs ist zudem noch nicht bekannt, welchen Einfluss sie auf die Entstehung von Krankheiten haben.

Trotzdem bietet 23andMe seinen Kunden auf seiner farbenprächtig gestalteten Website Informationen über rund 20 Merkmale an, darunter das individuelle Risiko für Herzinfarkt, Alkoholismus und Brustkrebs. Aber wer auf den folgenden Seiten genau nachliest, erfährt etwa beim Kapitel „Brustkrebs“, dass die Hochrisikogene BRCA1 und BRCA2 von der 23andMe-Analyse gar nicht erfasst werden. Und das, obwohl Trägerinnen in diesem Fall ein Risiko von 80 Prozent haben, im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs zu erkranken.

Für den Nachweis der Hochrisikogene ist eine komplette Sequenzierung der jeweiligen DNA-Abschnitte erforderlich, und die ist derzeit für knapp vierstellige Beträge noch nicht zu haben. Zudem gehen Humangenetiker heute davon aus, dass etliche genetische Faktoren, die das Auftreten von Brustkrebs begünstigen, bislang noch nicht gefunden worden sind. Auch nach einer SNPAnalyse durch 23andMe kennt eine Frau ihr individuelles Brustkrebsrisiko also noch nicht. Ähnliches gilt auch für andere Erkrankungen wie etwa Herzinfarkt oder Multiple Sklerose.

Schon bald allerdings dürften Interessentinnen zumindest einen Gentest auf die bekannten Hochrisikogene BRCA1 und BRCA2 über das Internet ordern können. Denn neue Technologien ermöglichen immer schnellere und damit günstigere Sequenzierungen von DNA (siehe TR 8/07). Kostete das Humangenomprojekt – die Entzifferung des kompletten menschlichen Genoms – noch drei Milliarden Dollar, so liegt das günstigste Genomsequenzierungsangebot heute bei 60000 Dollar. Diesen Preis gab Applied Biosystems in diesem März bekannt. Mehrere Forschergrup- pen wollen innerhalb der nächsten drei Jahre ein 1000-Dollar-Genom anbieten, die US-Unternehmen Complete Genomics und BioNanomatrix arbeiten sogar an der 100-Dollar-Genomanalyse, die pro Schritt nicht nur ein bis zwei Basen auf einmal entziffert, sondern gleich fünf.

Genomanalysen fürs Volk sind also in greifbarer Nähe – doch Billigangebote, die DNA-Analyse-Ergebnisse mit der Entstehung von Krankheiten in Verbindung bringen, rufen bei vielen Genomforschern Skepsis hervor: „Da wird mit dem Wohlbefinden der Menschen gespielt“, sagt Helmut Blöcker vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsmedizin, „die Mitteilung von Ergebnissen aus Genomsequenzierungen muss durch speziell geschulte Berater erfolgen.“ Die Entwicklung von immer günstigeren Sequenzierungstechnologien hat allerdings auch klare Vorteile: Mit ihrer Hilfe könnten Gentests bei all jenen durchgeführt werden, bei denen tatsächlich ein begründeter Verdacht durch eine bekannte familiäre Belastung vorliegt – und nicht aus Kostengründen erst dann, wenn die Erkrankung schon zu ersten Symptomen geführt hat. Dazu reicht allerdings meist die Sequenzierung des fraglichen Gens.

Eine komplette Genomsequenz dagegen liefert zurzeit vor allem eine Vielzahl von Messwerten und nur wenig brauchbare Informationen. Dieser Umstand beschäftigt auch den Genomforscher Blöcker: „Die Buchstaben und Worte im Genom zu entziffern, ist heutzutage lediglich ein technisches Problem. Diese Worte zu entschlüsseln, ihnen die richtige Bedeutung zuzuweisen, ist die eigentliche Herausforderung.“ Da seien vor allem die Systembiologen und Bioinformatiker gefordert. Diese Experten sind auch an dem 1000-GenomeProjekt beteiligt, das ein internationales Forscherkonsortium in diesem Januar ins Leben gerufen hat. Das Ziel ist, durch die Sequenzierung von 1000 menschlichen Genomen eine detaillierte Karte von genetischen Variationen zu erstellen. Bioinformatiker und Systembiologen können diese Daten dann mit individuellen Krankheitsrisiken in Verbindung bringen und überprüfen, ob und wie effektiv bestimmte Lebensweisen oder Vorsorgemaßnahmen das Auftreten einer Erkrankung verhindern.

In der Zwischenzeit aber sieht es so aus, als würden die privaten AnalyseAngebote mehr Verwirrung als Aufklärung bringen. „Was diese Firmen machen, ist vergleichbar mit dem, was Quacksalber früher auf den Jahrmärkten angeboten haben“, bemängelt Professorin Irmgard Nippert, die an der Universitätsklinik Münster ein Modellprojekt für genetische Beratung geleitet hat.

Dem ungezielten DNA-Orakeln, wie es Unternehmen wie 23andMe betreiben, prophezeit die Soziologin deshalb keine große Zukunft: „Die Leute sind nicht blöd, irgendwann merken sie, dass sie für immerhin 1000 Dollar für dumm verkauft werden.“ (nbo)