Atombomben auf Ost-Berlin

USA geben geheime Liste nuklearer Ziele von 1956 frei

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Ein Jahrzehnt nach den Atombombenabwürfen auf Japan arbeitete das von Air Force General Curtis LeMay aufgebaute Strategic Air Command an einem umfassenden Vernichtungsschlag gegen die Sowjets. LeMay, der die Atombombenabwürfe auf Japan kommandierte, hatte seit Ende der 1940er Jahre dafür plädiert, Russland in einen Parkplatz zu verwandeln. Eine nunmehr von der George Washington Universität veröffentlichte Air Force-Studie von 1956 für die für 1959 projektierte Erstschlagskapazität erweist sich selbst nach militärischen Maßstäben als zynisch.

Das Ausmaß der eingesetzten Mittel überstieg selbst die scheinbaren Übertreibungen in Stanley Kubricks "Dr. Strangelove" bei weitem. So waren allein für Moskau 179, für Leningrad 145 Atombomben mit Kenngrößen zwischen 1,7 und 9 Megatonnen TNT vorgesehen (zum Vergleich: Die Bomben von Hiroshima und Nagasaki hatten eine Sprengkraft von 0,013 und 0,02 Megatonnen TNT). Die Explosionen sollten in geringer Höhe erfolgen, um maximale Zerstörung und Verteilung des radioaktiven Materials zu erzielen.

Seit dem Test Castle Bravo von 1954 verfügten die USA über eine 15-Megatonnen-Bombe, deren Explosionswolke in die Troposphäre reichte, später sogar über eine 25 Megatonnen-Bombe. Den nun veröffentlichten Dokumenten zufolge verlangten die US-Generale sogar eine 60 Megatonnen-Bombe, was 4.000 Hiroshima-Bomben entspräche (1961 testeten die Russen eine Wasserstoffbombe in dieser Größenordnung).

Zu den militärischen Zielen für einen Nuklearangriff zählten auch etwa 200 von den Sowjets kontrollierte Einrichtungen in der DDR, darunter etliche in der Nähe von West-Berlin, etwa Oranienburg und Hennigsdorf. Die damals den Westmächten unterstehenden West-Berliner, welche die US Air Force als Rosinen-Bomber feierten, wären bei einem atomaren Angriff vor den Toren der Stadt als planmäßiger Kollateralschaden unter friendly fire geraten. Zu den militärischen Zielorten gehörte auch eine Basis in Templin, wo damals Angela Merkel aufwuchs.

Von ähnlicher Mentalität waren auch die streng geheimen und von westdeutschen Politikern lange dementierten Pläne der USA, im Fall einer sowjetischen Invasion die innerdeutsche Grenze mit 200 taktischen Atomminen zu verseuchen. Der nukleare Korridor hätte auch zehntausende Westdeutsche das Leben gekostet und Teile Deutschlands unbewohnbar gemacht. Vergangene Woche hatte die George Washington University auch diesbezüglich Geheimdokumente veröffentlicht.

Zivilbevölkerung im Visier

Doch wie nun die Studie der Air Force von 1956 zeigt, begnügten sich die Strategen im Pentagon nicht etwa mit der Bekämpfung militärischer Einrichtungen, sondern verfolgten die systematische Vernichtung des Gegners.

So sah eine zweite Liste zivile Ziele vor, darunter ausdrücklich Städte. Allein für Ost-Berlin und Vororte waren 91 Ziele markiert. Neben dem direkten Angriff auf die urbane Bevölkerung sollten im Osten auch zivile Produktionsstätten vernichtet werden. Selbst Penicillin-Fabriken, deren Produkte die Bevölkerung nach einem Nuklearkrieg in besonderem Maße benötigt hätte, wählten die US-Militärs als probate Ziele. Der von den Detonationen erzeugte nukleare Fallout sollte die umliegende Bevölkerung dezimieren, die an der Strahlenkrankheit krepiert wäre.

Angriffe auf die Zivilbevölkerung standen weder im Einklang mit den offiziellen Regeln der Air Force, noch mit der – allerdings nicht ratifizierten - Haager Landkriegsordnung ("Luftkriegsregeln"). Erst im 1977 verabschiedeten Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen wurde eine entsprechende Kriegsführung gegen die Zivilbevölkerung ebenfalls geächtet.

Politischer Hebel für die strategische nukleare Aufrüstung war offiziell die angebliche Bomber- und Raketenlücke gewesen, welche die Nation scheinbar zwang, zu den Sowjets aufzuschließen. So hatte sich die CIA bei den Paraden zum 1. Mai über die Anzahl der Bomber täuschen lassen, weil die Russen die Maschinen mehrfach über den Roten Platz fliegen ließen, sowie durch Raketenpropaganda.

Als die USA 1961 durch verbesserte Spionagesatelliten erkannten, dass die Sowjets statt über 500 gerade einmal über vier einsatzfähige Interkontinentalraketen verfügten und daher keine reale Bedrohungslage bestand, ließ das Pentagon nicht etwa von seinen Plänen ab. Vielmehr schlug der damals ranghöchste Militär Lyman Louis Lemnitzer vor, den Gegner überraschend nuklear zu vernichten, solange er noch wehrlos sei – und China gleich mit, das damals noch keine Atomwaffen besaß. Die Regierung Kennedy lehnte ab.