Müssen Geflüchtete hilflos und schutzsuchend sein?

Wie der Diskurs der Willkommenskultur die Errungenschaften der Refugeekämpfe der letzten Jahre verdrängt hat

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"Ich, Shani Haliti, war schon im Kosovo und in Serbien Aktivist in Rroma-Organisationen. Jetzt bin ich seit 2 Jahren Aktivist bei Roma Thüringen. Ich trete dafür ein, dass Rroma und Rromnja sich gegenseitig unterstützen und einen gemeinsamen Kampf für ihre Rechte führen."

Dies steht in einem Offenen Brief eines Mannes, der täglich mit seiner Abschiebung rechnen muss. Seit mittlerweile fast alle Balkanländer von der Bundesregierung zu sicheren Herkunftsländern erklärt wurden, läuft bundesweit eine Abschiebewelle gegen Roma.

Zur Kenntnis genommen wurde sie schon zu Zeiten, als in Deutschland der offizielle Diskurs noch auf Willkommenskultur stand. Schon damals wurden Migranten vom Balkan der Vorwurf gemacht, sie würden die Plätze für wirklich "Hilfebedürftige" nicht freigeben. Dabei hätten sie sowieso keine Chance, in Deutschland bleiben zu können. So wurde eine Konkurrenzsituation zwischen Geflüchteten hergestellt. Dabei brauchte man den Antiziganismus gar nicht direkt benennen, der immer auch mehr oder weniger verdeckt gegen Roma in Anschlag gebracht wird.

Wenn nun Appelle von Roma, denen die Abschiebung droht, in der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert werden, ist das eine Fortsetzung dieser Ignoranz.

An die geschichtliche Verantwortung Deutschlands erinnert

Schon Anfang Februar hat Mena, eine in Thüringen lebende Roma-Aktivistin, einen Offenen Brief an Politik und Öffentlichkeit verfasst, in dem sie auch an die geschichtliche Verantwortung Deutschland erinnert:

"Wir alle wissen auch, wie viele Menschen hier in Deutschland verschleppt, gefoltert, ermordet und verbrannt wurden; ihr habt versucht, uns zu vernichten. Allein deswegen haben wir hier auf Deutschland Anspruch. In der NS-Zeit habt ihr uns in ganz Europa, darüber hinaus und auch im Balkan gejagt, um uns umzubringen. Allein deswegen haben wir haben ein Recht darauf, hier zu sein."

Solche Töne kommen selbst bei manchen der Menschen nicht gut an, die sich irgendwo zur Willkommenskultur bekennen. Dabei ist schon die Wortwahl bezeichnend: So wird vor allem in Medien, die sich zur Willkommenskultur bekennen, von den Geflüchteten häufig als hilflosen oder schutzsuchenden Menschen gesprochen.

Diese Charakterisierung trifft für Menschen zu, die unmittelbar aus Katastrophengebieten fliehen wie aktuell aus der Gegend um die umkämpfte Stadt Aleppo, aber auch auf Menschen, die auf der Flucht vor Naturkatastrophen aller Art ihre Wohnorte verlassen. Ein Großteil dieser Menschen kehrt sofort wieder in ihre Wohngebiete zurück, wenn die unmittelbare Gefahr vorüber ist. Das gilt auch für die syrischen Oppositionellen, die mit Folter und sogar mit dem Tod bedroht sind - sowohl von der Regierung, aber auch den verschiedenen islamistischen Warlords. Nach einer Umfrage von Adopt the Revolution wollen viele von ihnen nach Syrien zurückkehren, wenn die unmittelbare Gefahr vorbei ist.

Ein großer Teil von denjenigen, die aktuell nach Deutschland migrieren, fliehen aber nicht vor einer Gefahr um Leib und Leben. Sie suchen ein besseres Leben in Deutschland, weil sie keine Hoffnung mehr haben, dass sich in den Ländern, aus denen sie kommen, zu ihren Lebenszeiten etwas zum Besseren ändert. Sie sind es leid, für sich und ihre Kinder ein Leben in ständiger existentieller Not verbringen zu müssen. Das ist ein legitimes Interesse, nur ist auch den größten Verteidigern der Willkommenskultur klar, dass sie dafür in der deutschen Öffentlichkeit wenig bis kein Verständnis finden werden.

Dann ist es einfacher, das Bild von den schutzsuchenden, hilflosen Menschen zu verbreiten. Das weckt Beschützerinstinkte. Doch eine solche Sichtweise blendet die "Autonomie der Migration" aus, die schließlich für die zeitweilig offenen Grenzen verantwortlich ist. In der öffentlichen Diskussion wird dafür Bundeskanzlerin Merkel entweder gelobt oder verdammt. Doch die eigentlichen Akteure, auf die Merkel reagierte, werden so ausgeblendet und eben zu hilflosen Menschen erklärt.

Schutzbedürftig sind die meisten Migranten in der Tat, aber oft werden sie durch die Umstände der Flucht in diese Situation gebracht. Gäbe es sichere Transitwege für die Menschen, müssten sie nicht die lebensgefährlichen Fluchtrouten wählen. Diese Forderung wird von antirassistischen Initiativen schon lange vor dem Diskurs über die Willkommenskultur geführt, hat aber in der politischen Debatte nie eine große Rolle gespielt.

Es müssen schon Diktatoren sein, die auch in der deutschen Politik angezählt sind, damit Geflüchtete eine zumindest zeitweilige Bleibeoption in Deutschland erhoffen können. Kurden aus der Osttürkei fallen ebenso wenig darunter wie Roma vom Balkan. Schließlich hat man in der Politik keine Mühe gescheut, die Zahl sicheren Herkunftsländer zu vergrößern. Schon gar nicht dürfen Migranten erklären, dass für sie die Umstände der Flucht die größte Gefahr waren.

Wenn Geflüchtete Rechte einfordern

Das würde bei der Mehrheit der Parteien und Medien nicht dazu führen, dass sichere Fluchtwege gefordert werden, sondern mehr Abschiebung: Denn Schutzbedürftige haben dankbar zu sein und keineswegs Forderungen zu stellen oder sich auf Rechte zu berufen, schon gar nicht mit Verweis auf die deutsche Vergangenheit. Deswegen wird der Offene Brief der Romaaktivistin Mena in der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert. Diese Erfahrung mussten bereits Flüchtlingsaktivisten machen, die mit den Slogan demonstrierten: "Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört."

Vom 20. bis 22. August 2015 organisierten Refugees gemeinsam mit Antimilitarismusgruppen die Bodenseeaktionstage gegen Waffenexporte. Der Aufruf war ausdrücklich "in Solidarität mit Menschen, die vor Krieg und Gewalt geflohen sind" verfasst. Hier traten Migranten nicht als Schutzsuchende, sondern als politische Akteure auf, was weitgehend ignoriert wurde.

Flüchtlingsselbstorganisationen wie The Voice kämpfen seit Jahrzehnten um Rechte für Geflüchtete. In dieser Tradition standen auch die Refugeekämpfe der letzten Jahre. Deswegen waren der Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg und die besetzte Schule im gleichen Stadtteil für die Migranten solche wichtige Orte.

Der Diskurs der Willkommenskultur hat die Erfolge dieser Kämpfe wieder in den Hintergrund gedrängt. Aus Refugees, die um ihre Rechte kämpfen, wurden im medialen Diskurs wieder Schutzsuchende und Hilflose. Die Briefe der Roma-Aktivisten aus Thüringen stehen in der Tradition der Refugeekämpfe, die Rechte einfordern und keine Gnade wollen.