Boomender Wirtschaftsstandort Deutschland mit einer wachsenden Schicht von Armen

Alle Jahre wieder erscheint der neueste Armutsbericht und man geht zur Tagungsordnung über

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"Je besser es dem Standort Deutschland geht, desto mehr wächst die Armut“, lautete die Überschrift eines Artikels zur Warnung des Paritätischen Wohlfahrtsverbands vor der wachsenden Verarmung großer Teile der Bevölkerung in Deutschland. Der Artikel stammt vom April 2014, ist aber ganz aktuell, wie der gestern veröffentlichte Armutsbericht 2016 deutlich macht. In der Bundesrepublik setzt sich die Verarmung großer Teile der Bevölkerung fort, konstatiert er: "Ein Verharren der Armutsquote in Deutschland auf hohem Niveau".

Für die Reichen der rote Teppich - für die Armen Hartz IV

In Zahlen ausgedrückt bedeutet das: Die Armutsquote bleibe mit 15,4 Prozent auf einer erhöhten Stufe. Sie sei zwar von 2013 auf 2014 um 0,1 Prozentpunkte gesunken. Ob der Negativtrend seit 2006, als die Armutsquote noch 14 Prozent betrug, damit gestoppt sei, bleibe jedoch offen. Während es insbesondere in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern signifikante Rückgänge der Armutsquoten gegeben habe, setze sich der Negativtrend in Nordrhein-Westfalen ungebrochen fort.

Das Ruhrgebiet bleibe mit Blick auf Bevölkerungsdichte und Trend die armutspolitische Problemregion Nummer Eins in Deutschland. Seit 2006 sei die Armutsquote im Ruhrgebiet um 27 Prozent angestiegen auf einen neuen Höchststand von 20 Prozent. Die am stärksten von Armut betroffenen Gruppen sind nach dem Bericht Erwerbslose (58 %). Auch die Kinderarmutsquote (19 %) liegt nach wie vor deutlich über dem Durchschnitt, wobei die Hälfte der armen Kinder in Haushalten Alleinerziehender lebt. Die Armutsquote Alleinerziehender liegt bei sogar 42 %, was u.a. an systematischen familien- und sozialpolitischen Unterlassungen liegt.

Alarmierend sei die Entwicklung insbesondere bei Rentnerhaushalten. Erstmalig seien sie mit 15,6 Prozent überdurchschnittlich von Armut betroffen.

Die Vorstellung des Armutsberichts ist mittlerweile ein jährliches Ritual geworden, wie es lange Zeit die Veröffentlichung der neuesten Arbeitsmarktdaten durch die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg war. Immer am Monatsanfang konnten wir dort erfahren, wie hoch die Erwerbslosigkeit und die Kurzarbeit war und was sich im Vergleich zum Vormonat und Vorjahr geändert hat. Auch heute werden die Arbeitsmarktdaten noch am Monatsbeginn bekannt gegeben, haben aber an Interesse und Bedeutung stark verloren.

Das hat mehrere Gründe. Zum einen ist mittlerweile klar, dass die reale Erwerbslosigkeit in den Zahlen nicht ausgedrückt wird, weil eben viele Erwerbslose in Maßnahmen umgeleitet werden und so aus der Statistik fallen. Zum anderen macht es heute für viele Menschen keinen Unterschied mehr, ob sie als Erwerbslose oder als Teil- oder Vollzeitlohnabhängige arm sind. Die Zeiten, wo ein Arbeitsplatz zumindest das Versprechen war, ein Einkommen über dem Existenzminimum zu haben, sind vorbei.

Heute können viele Vollzeitbeschäftigte ihre Reproduktionskosten nicht mehr durch ihren Lohn decken und müssen mit Hartz IV aufstocken. Wenn aber ein Job nicht mehr vor Armut schützt, verliert die Arbeitslosenstatistik gesellschaftlich an Bedeutung. Die Verarmung ist nun aber kein Naturgesetz, sondern eine von der Politik bewusst verursachte und gestaltete Politik. Die Etablierung eines Niedriglohnsektors und gleichzeitig die zunehmende Steuerbefreiung für die Oberklassen wurden in den letzten 2 Jahrzehnten von allen regierenden Parteien vorangetrieben.

Man achtete darauf, dass es der Wirtschaft gut geht. Das war ganz wörtlich zu verstehen. Wenn Konzernvertreter und ihnen nahestehende Publizisten von schlechten Bedingungen für die Wirtschaft redeten, verstand das eine ganz große Parteienkoalition als Aufrag, die Reichen noch mehr zu entlasten. Die wachsende Schar der Einkommensschwachen wurde mittels Hartz IV-Gesetze in ein System der Unterordnung gepresst. Die Waffe der Sanktionierung wurde immer besonders sichtbar geschwungen.

Die Folge ist ein boomender Wirtschaftsstandort Deutschland mit einer wachsenden Schicht von Armen. Es ist daher falsch, wenn jetzt in vielen Medien beklagt wird, dass es so viele arme Menschen in einem Land gibt, das wirtschaftlich so gut dasteht. Richtig wäre zu sagen, weil Deutschland wirtschaftlich so gut dasteht, gibt es den hohen Prozentsatz an Armen.

Die Reduzierung der Kosten der Ware Arbeitskraft war das Ziel bisher fast aller Politiker. So wurde Deutschland fit für den Weltmarkt gemacht, um mit anderen Ländern in Konkurrenz zu treten. Aber die erste Konkurrenz ist der Unterbietungswettbewerb im Bereich der Löhne, Einkommen und Arbeitsrechte, den sich die Länder der EU, angeführt von Deutschland, liefern.

Weg in die Rentnerarmut

Auch die wachsende Zahl der einkommensschwachen Senioren ist keine Überraschung, sondern wird seit Jahren anhand sehr solider Daten prognostiziert. Wenn Menschen über Jahre im Niedriglohnsektor gearbeitet haben, ist es klar, dass sie dann im Alter auch eine Niedrigrente bekommen. Das ist von der Politik durchaus so gewollt. Entsteht doch hier eine neue Schicht von billigen Teilzeitbeschäftigten, die oft unter Tarif einer Lohnarbeit nachgehen.

In der fordistischen Phase der BRD war die Formel "Die Renten sind sicher" der Brosamen der vom Tisch der sozialen Marktwirtschaft fallen gelassen wurde. Norbert Blüm vom Arbeitnehmerflügel der CDU war der letzte Exponent dieser Phase. Vor allem Sozialdemokraten haben viel dazu beigetragen, dass der Satz heute lauten muss "Die Renten sind sicher zu wenig zum Leben“. Die sogenannte Riester-Rente, benannt nach dem ehemaligen Gewerkschafter und Sozialdemokraten Riester war der Prellbock mit dem unter rot-grün die solidarischen Versicherungssysteme demontiert wurden.

Wo alles dem Kapitalgesetz unterworfen werden sollte, sollte auch die letzte solidarische Nische geschleift werden. Jahrelang galten Kritiker der Riesterrente fast schon als radikale Linke. Nun erklärt selbst der Arbeitnehmerflügel der CDU die Riesterrente für gescheitert und fordert die Rückabwicklung.

Das Anwachsen rechtspopulistischer Strömungen und die Flaute bei den sozialen Bewegungen

Wenn solche Töne selbst aus der Union kommen, könnten sich die Reste der sozialen Bewegungen eigentlich andere Ziele setzen, um deutlich zu machen, dass Armut und eine boomende Wirtschaft zusammen gehören. Doch davon ist wenig zu sehen.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband stellt wie bereits in den letzten Jahren Forderungen, wie den Bau von mehr Wohnungen und die Erhöhung der Steuern bei den Reichen. Doch selbst solche sozialpolitischen Forderungen sind heute nur noch durchzusetzen, wenn man Widerstand von unten organisiert. Die ewigen Appelle, die Politik solle doch etwas sozialer werden, bewirken nur, dass sich die Menschen schulterzuckend abwenden und sich, statt mit Nachbarn und Kollegen für die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse zu kämpfen, daran beteiligen, Menschen, denen es noch schlechter geht, zu Sündenböcken zu machen.

Das Anwachsen rechtspopulistischer Strömungen und die Flaute bei den sozialen Kämpfen bedingen einander. Tatsächlich gibt es in einigen Städten selbstorganisierte Mieterkämpfe und gelegentlich Arbeitskämpfe auch in Branchen, die als schwer oder gar nicht organisierbar galten. Doch eine gesamtgesellschaftliche soziale Bewegung, wie sie in den Jahren 2012 und 2013 sogar transnational mit den M31-Protesten aufschien, ist nicht entstanden. Eine Bewegung gegen AFD, Pegida und Co. wird aber nur erfolgreich sein, wenn es gelingt, die sozialen Kämpfe wieder in den Focus zu rücken.

Es gib da hier und da Ansätze, wie am 1. Marz der Transnationale Migrantenstreik, wo Beschäftigte aus verschiedenen Ländern beginnen, um ihre Rechte zu kämpfen. Auch die Initiative Sanktionsfrei, die Erwerbslose unterstützt, die sich gegen Sanktionen wehren wollen, sind solche kleinen Ansätze eines sozialen Widerstands. Bereits im letzten Jahr gab es einen Versuch bei der Freien Arbeiterunion einen solchen Solidaritätsfond für Sanktionierte einzurichten.

Nun sollten diese Ansätze wieder aufgegriffen werden. Solange die aber noch so vereinzelt sind, dürfte es auch in den nächsten Jahren immer für ein oder zwei Tage Diskussionen über die wachsende Armut in Deutschland geben und die restliche Zeit wird die Politik gemacht, die genau diese Entwicklung befördert.